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Türkei

Rangliste der Pressefreiheit — Platz 165 von 180
Türkei 23.05.2017

Deniz Yücel seit 100 Tagen im Gefängnis

Deniz Yücel mit seiner Ehefrau Dilek Mayatürk. © privat

Reporter ohne Grenzen fordert die türkische Justiz erneut auf, den deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel sofort freizulassen. Yücel verbringt am morgigen Mittwoch seinen 100. Tag im Gefängnis. Am 14. Februar war der Korrespondent der Zeitung Die Welt festgenommen worden, nachdem er sich zur Polizei begeben hatte, um sich den Fragen der Ermittler zu stellen. Zwei Wochen darauf ordnete ein Haftrichter Untersuchungshaft für ihn an. Ebenso bekräftigt ROG die Forderung, die deutsche Journalistin Mesale Tolu umgehend aus der Haft zu entlassen.

„Deniz Yücel hat nichts als seine journalistische Arbeit getan. Jeder einzelne Tag, den er im Gefängnis verbringen muss, ist eine Schande für die türkische Justiz“, sagte ROG-Geschäftsführer Christian Mihr. „100 Tage Gefängnis, öffentliche Verunglimpfungen und Vorverurteilungen von höchster Stelle sind unerträglich. Deniz Yücel muss sofort freigelassen werden und so schnell wie möglich einen fairen Prozess bekommen, damit er sich gegen die haltlosen Anschuldigungen zur Wehr setzen kann. Zumindest muss die Einzelhaft für Deniz Yücel aufgehoben werden.“

Die türkische Justiz wirft Yücel Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, Datenmissbrauch und Terrorpropaganda vor. Vor seiner Festnahme war Yücel im Zusammenhang mit seinen Berichten über eine Hacker-Attacke auf ein E-Mail-Konto des türkischen Energieministers gesucht worden. Ebenso wie viele andere Journalisten internationaler Medien hatte er über den Inhalt der auf Wikileaks öffentlich zugänglichen E-Mails berichtet, in denen es unter anderem um die Kontrolle türkischer Medienkonzerne und die Beeinflussung der Öffentlichkeit durch fingierte Nutzer im Kurznachrichtendienst Twitter ging.

Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hat Yücel öffentlich als „PKK-Vertreter“ und „deutschen Agent“ bezeichnet. Deutschen Diplomaten gewährt die Türkei nur sehr eingeschränkten konsularischen Zugang zu dem Journalisten, der anders als viele andere inhaftierte Journalisten in Einzelhaft festgehalten wird: Bislang durfte ihn erst zwei Mal der deutsche Generalkonsul in Istanbul im Gefängnis besuchen.

Deutsche Journalistin Mesale Tolu ist mit kleinem Kind in Haft

Die deutsche Journalistin Mesale Tolu wurde am 30. April festgenommen und wird seit dem 6. Mai im türkischen Frauengefängnis Bakirköy festgehalten. Ihr zweijähriges Kind befindet sich mit ihr im Gefängnis. Tolu werden offenbar Terrorpropaganda und Mitglied einer Terrororganisation vorgeworfen. Tolu ist seit 2007 deutsche Staatsbürgerin und zog 2014 nach Istanbul, um für den Radiosender Özgür Radyo zu arbeiten. Der Sender wurde wie viele andere Medien auch nach dem Putschversuch im vergangenen Sommer per Dekret geschlossen. Danach arbeitete Tolu als Übersetzerin.

Insgesamt sitzen in der Türkei derzeit rund 165 Journalisten im Gefängnis. Mindestens 50 sind in direktem Zusammenhang mit ihrer journalistischen Tätigkeit in Haft. In Dutzenden weiteren Fällen ist dies ebenfalls wahrscheinlich, lässt sich aber derzeit nicht nachweisen, weil die türkische Justiz selbst die Betroffenen und ihre Anwälte oft für längere Zeit über die genauen Anschuldigungen im Unklaren lässt.

Zahlreiche Journalisten stehen außerdem in einer ganzen Reihe von Prozessen vor Gericht, viele wegen Vorwürfen wie angeblicher Unterstützung der PKK oder der Bewegung des Exil-Predigers Fethullah Gülen, die von der Regierung für den Putschversuch verantwortlich gemacht wird. Zuletzt verurteilte etwa ein Gericht in Istanbul Anfang dieser Woche die beiden Chefs des Nachrichtenmagazins Nokta, Cevheri Güven und Murat Capan,  in Abwesenheit zu 22 Jahren und sechs Monaten Haft, weil sie das Volk zu einem bewaffneten Aufstand gegen die Regierung aufgestachelt hätten. Hintergrund war eine Erdogan-kritische Titelseite des Magazins von November 2015.

Haftstrafe wegen Solidaritätsaktion, auch ROG-Korrespondent angeklagt

Am 16. Mai wurde der Journalist und Menschenrechtsaktivist Murat Celikkan wegen „Propaganda für eine terroristische Organisation“ zu 18 Monaten Haft verurteilt. Es war erste Mal, dass ein Urteil gegen einen Teilnehmer an einer Solidaritätsaktion mit der kurdischen Zeitung Özgür Gündem nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde. Insgesamt hat die türkische Justiz 56 Journalisten, Menschenrechtsaktivisten und Intellektuelle angeklagt, die zwischen Mai und August 2016 symbolisch jeweils für einen Tag die Chefredaktion der von den Behörden bedrängten, mittlerweile per Dekret geschlossenen Zeitung übernahmen. Gut ein Dutzend der Angeklagten wurden bereits zu Bewährungsstrafen verurteilt.

Unter den weiteren Angeklagten wegen der Solidaritätsaktion ist auch der Türkei-Korrespondent von Reporter ohne Grenzen, Erol Önderoglu. Bei seinem nächsten Prozesstag am 8. Juni wird das Plädoyer der Staatsanwaltschaft erwartet. Zusammen mit ihm sind die Vorsitzende der Türkischen Menschenrechtsstiftung, Sebnem Korur Fincanci, und der Cumhuriyet-Kolumnist Ahmet Nesin angeklagt. Die drei saßen wegen ihrer Rolle bei der Solidaritätsaktion im Juni 2016 zehn Tage lang in Untersuchungshaft, bevor sie nach internationalen Protesten unter Auflagen freigelassen wurden. Ihnen drohen bis zu vierzehneinhalb Jahre Haft.

In den vergangenen Monaten hat Reporter ohne Grenzen in zahlreichen Fällen Nothilfe für verfolgte Journalisten in der Türkei und im Exil geleistet.  Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht die Türkei auf Platz 155 von 180 Staaten.

Schon lange vor dem Putschversuch 2016 hat die Regierung versucht, unabhängige Medien unter ihre Kontrolle zu bringen: Führende Medien wurden entweder vom Staat übernommen oder von regierungsnahen Investoren aufgekauft. Politische Einflussnahme, Selbstzensur und die Entlassung kritischer Journalisten wurden alltäglich. So haben nach den Recherchen des ROG-Projekts Media Ownership Monitor sieben der zehn Besitzer der meistgesehenen landesweiten Fernsehsender direkte Verbindungen zu Präsident Recep Tayyip Erdogan und seiner Regierung.



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