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Afghanistan

Rangliste der Pressefreiheit — Platz 152 von 180
Afghanistan 11.08.2022

Kaskade der Versäumnisse

Ein Taliban-Kämpfer hält Wache in Kabul.
Ein Taliban-Kämpfer hält Wache in Kabul. © picture alliance / AP | Ebrahim Noroozi

Ein Jahr nach dem Sturm der Taliban auf Kabul am 15. August 2021 blickt Reporter ohne Grenzen (RSF) zurück auf erfolgreiche Evakuierungen dank der Zivilgesellschaft, auf persönliche Schicksale sowie auf die Fähigkeiten und Wünsche afghanischer Journalistinnen und Journalisten im hiesigen Exil. Bei aller Kritik an den Versäumnissen der deutschen Behörden begrüßt RSF den ab September tätigen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum Afghanistan-Einsatz und formuliert vorsichtige Hoffnungen für das angekündigte Bundesaufnahmeprogramm.

Mit dem Abzug der NATO-Armeen und der darauf folgenden Machtübernahme der Taliban im vergangenen Sommer drohte Medienschaffenden, ebenso wie ehemaligen Ortskräften der Bundesregierung sowie Aktivistinnen, Künstlern und Intellektuellen, von einem auf den anderen Tag Lebensgefahr.

Wir schaffen das: Wie die Zivilgesellschaft Leben rettete

Um Folter, Haft und Tod zu entkommen, machten sich Tausende auf den Weg, am Flughafen von Kabul spielten sich dramatische Szenen ab. Da die Bundesregierung ihrer Verantwortung, gefährdete Menschen zu retten, nicht annähernd nachkam, engagierte sich vor allem die Zivilgesellschaft. Die wichtigste Partnerin, mit der RSF eng und vertrauensvoll zusammenarbeitete, war dabei die NGO Kabulluftbrücke.

„Die Evakuierung von 629 afghanischen Journalistinnen und Journalisten und ihren Familien war ein beispielloser Kraftakt in der Geschichte von Reporter ohne Grenzen“, erinnert sich RSF-Geschäftsführer Christian Mihr.

Von den 629 Menschen, die RSF unterstützte, sind 159 Journalistinnen oder Journalisten, hinzu kommen direkte Familienmitglieder. Sie alle haben inzwischen eine offizielle Aufnahmezusage erhalten. Tatsächlich in Deutschland angekommen sind 606 Personen. 

Eine von ihnen ist die Radiojournalistin Zainab Farahmand. Sie wurde mit einer US-amerikanischen Maschine ausgeflogen. Mehr über ihre bisherige Arbeit, ihre Flucht und ihre Ziele können Sie im RSF-Podcast nachhören. 

Insgesamt hat das Nothilfe-Sekretariat von RSF die Rettung von 97 Prozent aller Personen abgeschlossen, die im vergangenen Jahr Aufnahmezusagen erhalten hatten. Im Vergleich dazu konnten von allen schutzbedürftigen Ortskräften, für die das Auswärtige Amt zuständig ist, laut dem Ministerium erst 75 Prozent Afghanistan verlassen.

Gefangen im Transit: Ungelöste Schicksale

Während die Journalistin Farahmand nach Deutschland einreisen konnte, harren viele andere noch immer in Transitländern aus, davon mindestens 110 Medienschaffende in Pakistan, weitere im Iran, Katar, der Türkei und anderen Staaten. Dies sind lediglich die Fälle, mit denen RSF in Kontakt steht, die tatsächliche Zahl dürfte um ein Vielfaches größer sein.

So erging es zum Beispiel der Journalistin Aziza Mahmudi, die ihr Baby in einem Transitland zur Welt bringen musste und deren richtigen Namen RSF aus Sicherheitsgründen nicht öffentlich nennen kann. Sie hatte in einer als Taliban-Hochburg bekannten Provinz über Frauenrechte berichtet. Trotz ihrer besonderen Schutzwürdigkeit hatte die Bundesregierung sie nicht auf die sogenannte Menschenrechtsliste aufgenommen.

Mahmudi brachte ihr Baby in Indien zur Welt. Selbst danach bearbeitete das Bundesinnenministerium den Fall der jungen Frau nicht, den das Auswärtige Amt an das Ressort weitergegeben hatte. Ihr Visum lief ab. Es ließ sich nicht verlängern. Anfang April mussten sie mit ihrem Neugeborenen zurück nach Afghanistan, wo sie seitdem mit weiteren Familienmitgliedern in einem Versteck lebt. RSF hat wiederholt bei sämtlichen Behörden nachgehakt und eine Gefährdungsmeldung eingereicht, aber monatelang keine Rückmeldung erhalten. Die junge Journalistin ist eine von vielen, die enorm darunter leidet, dass es für sie noch immer keine Lösung gibt.

Wie viele Medienschaffende sich noch in Afghanistan versteckt halten, kann auch RSF nicht beziffern, unter anderem deshalb, weil Betroffene in abgelegenen Provinzen teils keinen Zugang zum Internet haben, sich nicht trauen, digital zu kommunizieren, nicht mit westlichen NGOs vernetzt sind oder kein Englisch sprechen. 

Die Angst ist begründet: Allein dieses Frühjahr verhafteten die Taliban zwölf Medienschaffende, darunter den Dichter und Journalisten Khalid Qaderi von Radio Norroz, den Nachrichtenjournalisten der Agentur Asvaka, Jawad Etemad, sowie den TV-Journalisten Khan Mohammad Sayal vom Sender Payvasouton TV. Unter diesen Verhafteten sind keine weiblichen oder queeren Journalist*innen, denn gerade Menschen aus dieser Gruppe mussten ihren Beruf aufgeben und untertauchen. Wie eine neue Erhebung von RSF belegt, waren vor der Machtübernahme der Taliban mindestens 2756 Journalistinnen im Land tätig. Mittlerweile sind es nur noch 656.

Damit afghanische Medienschaffende sich unabhängig von ihrem Aufenthaltsort vor Überwachung und Verfolgung im Internet schützen können, hat RSF einen Digital Care Guide erarbeitet.

Beruflich gelähmt: Erfahrungen im deutschen Exil

Wie die Auswertung der erfolgreichen Evakuierungen von RSF zeigt, setzen sich die Probleme im deutschen Exil leider fort: Wer es bis nach Deutschland schafft, wird empfangen von undurchschaubarer Bürokratie, rechtswidrigen Verwaltungsakten und schwer zu verkraftenden Auflagen. Darüber berichteten Ende Mai Betroffene und Expertinnen bei einem RSF-Event, das hier nachgehört werden kann.

„Stellen Sie sich bitte nur eine Minute lang vor, Sie sind renommierter Journalist und haben mit der GIZ in Afghanistan Medienschaffende ausgebildet“, schildert Katja Heinemann, Leiterin des RSF-Nothilfereferats, die Geschichte eines betagten Journalisten: „Von heute auf morgen müssen Sie alles hinter sich lassen, erhalten im letzten Moment eine Aufnahmezusage, begeben sich auf eine lebensgefährliche Odyssee, werden trotz korrekter Papiere bei der Einreise nach Deutschland fast von der Polizei verhaftet und dürfen dann entgegen aller Zusicherungen ein Jahr lang ihre Frau und ihre Kinder nicht sehen.“

Seine Erfahrung steht sinnbildlich für die zahlloser geflüchteter Medienschaffender. Wie bei vielen wurde auch im Fall seiner Familie der Härtefallantrag nicht bearbeitet. Erst nach Monaten erhielt er einen Aufenthaltstitel nach Paragraf 22 des Aufenthaltsgesetzes, so wie es das Auswärtige Amt lange zuvor beschlossen und zugesichert hatte. Trotz aller Bemühungen konnten seine Frau und seine sechs Kinder, von denen eine Tochter ebenfalls Journalistin ist, noch immer nicht nach Deutschland reisen. Hier prüft RSF derzeit die Möglichkeit einer Klage.

Der Mehrheit der von RSF betreuten Medienschaffenden wurde behördlich verboten, in die Stadt ihrer Wahl zu ziehen, in der sie berufliche Kontakte haben und journalistisch weiterarbeiten können. „Die Journalistinnen und Journalisten wurden in kleine Provinznester geschickt, Familien wurden zerrissen“, kritisiert Heinemann. „Wir wünschen uns, dass die Evakuierten hier in Deutschland als journalistische Fachkräfte ernst genommen werden“, so die Referatsleiterin weiter.

Auch für die Zukunft Afghanistans ist es essenziell, dass Journalistinnen und Journalisten aus dem Exil weiter über die dortigen Entwicklungen berichten können. „Das sehen wir als eine Vorbereitung auf ein demokratisches Afghanistan. Und diese Hoffnung geben wir nicht auf“, betont Christian Mihr. Dabei hilft auch der JX Fund von Reporter ohne Grenzen, der Schöpflin Stiftung und der Rudolf Augstein Stiftung, der Exilmedien bei der Gründung unter anderem berät und finanziert.

Blick nach vorn: Die Fähigkeiten und Wünsche der Evakuierten

Angesichts der Ereignisse in und der Flucht aus Afghanistan haben viele Betroffene eine Traumatisierung und/oder andere gesundheitliche Beschwerden davon getragen. Umso bemerkenswerter ist Tatsache, dass die absolute Mehrheit der evakuierten afghanischen Journalistinnen und Journalisten unbedingt weiter in ihrem Beruf arbeiten möchte. Wie die Exil-Umfrage von RSF zeigt, wollen 98,4 Prozent auch in Zukunft journalistisch tätig sein, dies entspricht 122 von 124 Befragten.

Die meisten (82 Prozent) sind bereits seit mehr als fünf Jahren journalistisch tätig, die Hälfte als Reporter, zehn Prozent als Redakteurin. 37 Prozent haben Führungspositionen bekleidet. Mehr als die Hälfte (54,5 Prozent) arbeitete beim Fernsehen, gut 18 Prozent beim Radio, rund 16 Prozent im Printbereich und knapp zehn Prozent für Online-Medien.

Die größte Sorge der Evakuierten betrifft ihre Familien, die noch in Afghanistan sind. Unmittelbar darauf beschäftigt sie das Thema Beruf und Karriere, gefolgt von dem Wunsch, die deutsche Sprache zu erlernen, aufenthaltsrechtlichen Hürden zu überwinden sowie individuellen Bedürfnissen.

An der Umfrage teilgenommen haben bis Ende Mai 2022 insgesamt 124 Personen. Weitere Informationen sowie persönlichen Kontakt zu Betroffenen kann das Pressereferat von RSF auf Anfrage zur Verfügung stellen. 

Aus Fehlern lernen: RSF unterstützt Untersuchungsausschuss

„Ein Jahr nach der Machtübernahme der Taliban fällt unsere Bilanz ernüchternd aus“, so RSF-Geschäftsführer Mihr. „Deutsche Behörden sind gescheitert, ihrer Verantwortung für ehemalige Ortskräfte, Journalistinnen und Journalisten sowie die engagierte Zivilgesellschaft aus Afghanistan angemessen nachzukommen.“

Angesichts der Kaskade an Versäumnissen bleiben viele Fragen: Wieso hatte sich die deutsche Regierung so schlecht auf die von vielen vorhergesagte Machtübernahme der Taliban vorbereitet? Warum schützte sie die Ortskräfte nicht, die zuvor für die Deutschen tätig gewesen waren? Was lief bei den Evakuierungen vom Flughafen Kabul schief? Mit diesen und weiteren Fragen wird sich nach der Sommerpause ein Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestags befassen.

„Wir begrüßen den Untersuchungsausschuss zu Afghanistan ausdrücklich und bringen uns selbstverständlich gerne bei der Aufklärung ein“, betont Mihr.

Der Ausschuss war von den Ampel-Parteien sowie der Union beantragt worden, hat sich am 8. Juli 2022 erstmals zusammengefunden und soll das nächste Mal im September tagen. Inwiefern echte Aufklärung und Transparenz erreicht werden können, wenn zentrale Punkte geheim oder in nicht-öffentlicher Sitzung verhandelt werden, etwa bei Versäumnissen, die unter Beteiligung des Bundesnachrichtendienstes bzw. des Militärischen Abschirmdienstes erfolgt sind, stellen Experten infrage. 

Klar ist schon heute, dass der Zeitraum, den der Ausschuss untersuchen will, mit dem 30. September 2021 deutlich zu früh endet: Ein großer Teil der Fehler wurde schließlich erst nach der Ankunft der Schutzbedürftigen in Deutschland, beispielsweise von Innenministerien, BAMF, Ausländerbehörden, Polizeien und vielen mehr begangen. Das Kommunikationschaos unter deutschen Behörden kann so nicht aufgearbeitet werden, und das, obwohl aus diesen Fehlern dringend Lehren für die Zukunft gezogen werden müssten.

Die Arbeit der zu Afghanistan eingesetzten Enquete-Kommission verfolgt RSF ebenfalls aufmerksam und hofft auf zeitnahe und lösungsorientierte Ergebnisse.

Aufnahmeprogramm jetzt!

„Der parlamentarische Blick zurück ist wichtig, aber die Bundesregierung muss dringend nach vorne schauen und erklären, wie das von ihr versprochene Bundesaufnahmeprogramm umgesetzt werden soll“, so Mihr weiter. Dies braucht es, damit die Medienschaffenden und anderen gefährdeten Menschen, die nach wie vor in Afghanistan ausharren oder in Drittländern feststecken, endlich gerettet werden können.

„Wir freuen uns, dass unsere Hinweise offensichtlich ankommen und auf höchster Ebene der politische Wille besteht, eine strukturierte Aufnahme afghanischer Journalistinnen und anderer Gefährdeter zu organisieren“, so Mihr. „Doch nun müssen Taten folgen“, fordert der RSF-Geschäftsführer. Trotz der Ankündigung im Koalitionsvertrag, Willensbekundungen der zuständigen Ministerinnen sowie eines konstruktiven Austauschs zwischen RSF und Politik sind wichtige Fragen immer noch offen:

Nach welchen Prioritäten sollen Schutzbedürftige ausgewählt werden? Wer soll die Verifikation übernehmen? Wie lässt sich Transparenz und Fairness garantieren? Wie soll die Zivilgesellschaft einbezogen sein? Wie soll die geplante Koordinierungsstelle besetzt sein? Werden gefährdete Personen sich niedrigschwellig melden können? Wie sollen die Evakuierungen logistisch ablaufen?

Diese und weitere Details zum Bundesaufnahmeprogramm müssen schnellstmöglich geklärt werden. Im Fall des erwähnten Journalisten haben die Taliban bereits ein Familienmitglied entführt, um herauszufinden, wo sein Sohn sich aufhält, der ebenfalls Journalist ist. Er hatte sich rechtzeitig in einem Nachbarland verstecken können. Doch so viel Glück wie er werden nicht alle haben.

Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht Afghanistan auf Platz 156 von 180 Staaten.



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