Durch Wehmut vereint

Mehr als sechs Millionen Menschen haben Venezuela in der Krise verlassen. Die Fotografin Fabiola Ferrero will Seelenzustände zeigen: Derer, die gegangen sind. Jener, die bleiben.

Ein Bildessay – geschrieben von der Journalistin Karen Naundorf, u.a. Korrespondentin für das schweizerische Fernsehen (SFR) in Zusammenarbeit mit der venezolanischen Fotojournalistin Fabiola Ferrero, Stipendiatin der Magnum Foundation und des World Press Photo 6x6 Talent Program.

© Fabiola Ferrero

Ein bunter Guacamaya-Papagei sitzt trotz starken Regens auf einem Holzgeländer am Rand von Caracas.

Ich erinnere mich genau an den Tag, an dem ich die Möbel in der Wohnung meiner Eltern mit Plastikfolie abgedeckt habe. Ich habe den Kühlschrank geleert, sogar Fleisch lag noch drin. Einer von meinen Brüdern hatte es gekauft. Eigentlich wollte er nur verreisen und dann nach Caracas zurückkommen. Aber stattdessen musste ich eine weitere Stecknadel in meine Weltkarte pinnen.

Rund hundert stecken dort schon. Die Nadeln haben kleine, runde, perlmuttweiße Köpfe und jede zeigt, wohin ein Familienmitglied oder jemand aus meinem Umfeld ausgewandert ist: Meine Eltern sind in Kolumbien. Ein Bruder in Spanien, der andere in England. Die übrigen Nadeln stehen für Verwandte und Freunde in Uruguay, Argentinien, Peru, Ecuador, Deutschland, China, Südkorea und Australien.

Vor zwei Jahren bin ich selbst ausgewandert, als Letzte aus unserer Familie. Ich wohne in Kolumbien, aber ich komme immer wieder nach Caracas zurück, monatsweise. Dort fühle ich mich nun als Besucherin in meiner Stadt, sie fühlt sich fremd an. Niemand ist da, den ich anrufen könnte. Ich hüte leere Wohnungen von Freunden oder miete ein Zimmer. Denn in der Wohnung meiner Eltern ist alles verstaubt und ich hätte kein funktionierendes Internet. Gleichzeitig sehnt sich meine Seele danach, sich Zuhause zu fühlen und immerhin, das Klima ist vertraut: 25 Grad, frisch, aber nicht kalt, mehr als einen Pulli braucht man nie.

Ich habe ursprünglich Journalismus studiert und viel geschrieben. Bis heute überlege ich oft: Brauchen die Bilder einen begleitenden Text, um eine bestimmte Situation am besten zu vermitteln? Oder schränken Worte und Sätze vielleicht die Interpretationsmöglichkeiten eher ein, gerade wenn es um Gefühle geht – und stehen Bilden am besten für sich? Mir fällt es leicht, mit Bildern Stimmungen spürbar zu machen. Und dabei ist es mir wichtig, diverse Stimmen sprechen zu lassen: Frauen, Menschen verschiedener Hautfarbe, aus der LGBT-Community, Transpersonen. Und natürlich fließt auch meine Sichtweise ein – die einer venezolanischen Migrantin.

Sechs Millionen Menschen haben Venezuela in den vergangenen Jahren verlassen. Darunter meine Eltern, meine Brüder und alle meine nahen Freunde. Die meisten ab 2014, als die Krise sich zuspitzte. Auf einmal hatte alles, was mich umgab, und auch mein Leben mit Migration zu tun. So dass ich irgendwann entschieden habe: Ich muss das Thema auch in meiner Fotografie aufgreifen. Mir geht es dabei nicht um das Offensichtliche und nicht um Gegenstände. Es geht mir darum, Atmosphären zu schaffen, die den Zustand der Seelen von Migranten zeigen und auch von jenen, die geblieben sind.

Sechs Millionen Menschen haben Venezuela seit der Krise im Jahr 2014 verlassen.

© Fabiola Ferrero

Menschen stehen im Regen Schlange, um etwas Reis zu ergattern. Manche warten schon seit vier Uhr morgens vor dem Laden: Jede Person darf nur einen Sack Reis kaufen.

© Fabiola Ferrero

Die heruntergekommene Fassade des Parque Central in Caracas im August 2021. Der riesige Wohnkomplex mit angeschlossenem Messe-, Einkaufs- und Kulturzentrum galt in den 1980er-Jahren als eine der wichtigsten urbanen Entwicklungen Lateinamerikas.

© Fabiola Ferrero

November 2020: Ein Mann trägt eine Frau über den Tachira-Fluss, der Kolumbien und Venezuela trennt. Obwohl die Brücke geschlossen wurde, überqueren hier täglich rund 450 Venezolaner die Grenze in Richtung Kolumbien. Zugleich kehren jeden Tag rund 200 Migranten nach Venezuela zurück.

Gründe zu gehen, gibt es viele. Einige meiner Freunde sind entführt worden und haben den posttraumatischen Stress nicht mehr ausgehalten. Andere brauchten Medikamente oder eine medizinische Versorgung, die es in Venezuela nicht gab. Wieder andere wollten studieren oder schlichtweg ein anderes, ein besseres Leben. Oder sie sind gegangen, weil der Rest ihrer Familie ging. Ob sie zurückkommen, eines Tages? Alle sicherlich nicht. Man geht und baut sich ein Leben auf. Ich habe kleine Cousins, die sind in Spanien geboren, sprechen wie kleine Spanier – als was werden sie sich später fühlen? Als Spanier, als Venezolaner? Werden sie eines Tages mal in Venezuela leben wollen?

Sechs Millionen Auswanderer, das ist ein Fünftel der Bevölkerung. Zunächst gingen jene, die sich ein Ticket leisten konnten und die anderswo willkommen waren: Ärzte, Lehrer, Leute mit guter Ausbildung. Doch irgendwann gingen auch jene, die von der Hand in den Mund leben. Viele von ihnen sind zunächst nach Kolumbien gelaufen, von einer Notlage in die nächste geraten, dann liefen sie weiter nach Ecuador oder sogar nach Peru. Dann wieder nach Kolumbien. Manche kommen irgendwann nach Venezuela zurück, sie sagen sich: Wenn ich schon Hunger leide, dann wenigstens in meinem Land, umgeben von Landsleuten und unter meinem Mangobaum. Doch dann versuchen sie es erneut, gehen wieder nach Kolumbien. Sie laufen und laufen, Hunger und Hoffnung im Gepäck. Vielleicht weil Stillstand das ist, was in der Verzweiflung am wenigsten zu ertragen ist.

Diese Bildstrecke mischt verschiedene Perspektiven, Orte, Gefühle, Situationen: Migranten in Kolumbien in der Pandemie. Wut in Venezuela, zu sehen auf einer Demonstration. Oder auch Alltag in der Hauptstadt Caracas, zum Beispiel in der U-Bahn, die ziemlich heruntergekommen ist. Das Foto eines Papageis im Regen steht für mich für die enge Verbindung der Bewohner von Caracas mit der Natur: Die Stadt ist sehr grün, oft kommen Papageien ans Fenster. Aber, was für uns immer etwas Fröhliches war – die bunten Federn der Papageien, die man gerne fütterte – ist auf dem Foto plötzlich anders belegt. Der Papagei fliegt nicht. Er sitzt und lässt sich nass regnen. Das hat für mich etwas Symbolhaftes.

Im Alltag geht es in erster Linie darum, in Bewegung zu bleiben.

© Fabiola Ferrero

April 2017: Demonstranten schützen sich mit Plastikbrillen und Tüchern vor Tränengas. Sie haben sich unter eine Brücke in Caracas geflüchtet, nachdem die Nationalgarde ihren Protestzug mit Gummigeschossen gewaltsam aufgelöst hatte.

© Fabiola Ferrero

August 2021: Ein Paar tanzt einen einsamen Tango in einem leerstehenden Teil des einst ikonischen Parque-Central-Komplexes im Zentrum von Caracas.

Das gilt auch für ein anderes Bild, das viel über Caracas aussagt: Ein Gebäudekomplex, die Farbe blättert, der Bau verfällt. Aber inmitten der Zerstörung, der Einsamkeit, der Verlassenheit, tanzt ein Paar gemeinsam Tango. Die Musik kam aus einem Handylautsprecher, ich habe sie leise aus der Ferne gehört und dachte: Trotz des Verfalls haben die Menschen sich nicht in Geister verwandelt oder gar in Zombies. Sie hören Musik, sie versuchen, ihr Leben weiterzuführen, sie bewahren den Sinn für Schönes. Ich habe damals in mein Tagebuch geschrieben: „Musik bewahrt uns vor dem absoluten Niedergang: So lange getanzt wird, gibt es Leben in dieser Stadt.“

Im Alltag geht es in erster Linie darum, in Bewegung zu bleiben und grundlegende Probleme zu lösen: Woher bekomme ich Bargeld? Wo gibt es Wasser? Jetzt ist der Strom schon wieder weg, wann kommt er wohl wieder? Wir brauchen Lebensmittel! Die Alltagssorgen überlagern alles. Auf dem Land gibt es inzwischen wieder Menschen, die mit Feuerholz kochen und essen, was sie selbst anpflanzen. Sie haben kein Geld zum Einkaufen und oft auch keine Chance, an Benzin zu kommen: Weil es keines gibt und wenn doch, reicht das Geld auch dafür nicht aus. Doch es gibt auch eine Parallelwelt. Es gibt auch jene, die Zugang zu US-Dollar haben, durch ihre Arbeit oder weil ihnen jemand Geld schickt. Sie können zurzeit wieder fast alles kaufen, sogar Importwaren. Aber das ist eine kleine Gruppe. Und seit der Pandemie geht die Schere nochmals weiter auseinander als zuvor, die Ungleichheit hat sich verschärft. Laut einer Studie sind 94 Prozent der venezolanischen Bevölkerung arm.

Die Ungleichheit im Land ist seit der Covid-19 Pandemie noch größer geworden.

© Fabiola Ferrero

Alexandra Baeza trocknet die Wäsche ihrer Enkelin vor einem Krankenhaus in Ciudad Bolivar. Die elf Monate alte Luciannys wurde hier im Januar 2020 – wie viele andere Kleinkinder – wegen Unterernährung behandelt. Präsident Nicolas Maduro verneinte, dass in Venezuela eine Hungersnot herrsche.

© Fabiola Ferrero

Die 27-jährige Henrixy Sanchez liegt während des ersten Corona-Lockdowns in einem kahlen Raum in der kolumbianischen Hauptstadt Bogota. Sie war erst kurz vor Ausbruch der Pandemie aus Venezuela hierher geflohen.

In der Pandemie gab es zeitweise wenig Arbeit für Fotografen. Deshalb habe ich ein Projekt ins Leben gerufen, unterstützt durch ein Stipendium der Bildagentur Getty Images: Semillero Migrante ist ein Fortbildungsprogramm in Fotografie. Die Teilnehmer erhalten jeweils vier Monate lang Unterricht, ein Mentor nimmt sie an die Hand. Ziel ist es, Migranten eine Chance zu geben, ihre Fähigkeiten weiterzuentwickeln. Damit sie ihre Erfahrungen mit ihrer eigenen Stimme erzählen können, so wie sie es möchten. Warum mir das wichtig war? Es gibt zwar internationale Stipendien, auch für Auswanderer. Aber viele sprechen kein Englisch und bleiben deshalb bei vielen Programmen außen vor, die nicht spanischsprachig sind. Bei uns können sie mitmachen.

Ich suche jetzt aber auch wieder nach anderen Themen. Nur weil wir ausgewandert sind, müssen wir nicht immer nur über Migration sprechen und dazu arbeiten. Und wir verändern uns. Ich bin nicht mehr die gleiche wie jene, die damals zum ersten Mal die Grenze nach Kolumbien überquert hat. Natürlich macht es mich immer wieder traurig, an die Wohnung meiner Eltern zu denken: die Plastikfolien auf den Möbeln, den Staub. Es ist, wie in einem gigantischen Meer zu schwimmen und auf den Meeresboden abzutauchen. Aber man muss auch Luft holen, kann ab und zu an Land gehen, surfen oder fischen. Manchmal hinterfrage ich mich und meine Arbeit so sehr, dass es beinahe lähmt. Aber dann kommt die Motivation zurück und ich muss einfach fotografieren. Vor allem, wenn ich spüre, dass ich zu einem Thema etwas zu sagen habe. Oft ist das beinahe instinktiv, gefühlsgeleitet.

Mir ist klar, dass ich zu einer Gruppe privilegierter Migrantinnen und Migranten gehöre. Aber uns alle verbindet eine migrationsbedingte Wehmut. Es spielt keine Rolle, aus welcher sozialen Schicht du kommst und aus welchen Gründen du gehst. Die einen haben ihre Familie verlassen, andere trauern um ihre Erinnerungen, andere haben ihren Wohlstand aufgegeben, wir haben alle etwas verloren. Und allen ist klar: Egal ob du gehst oder bleibst, das alte Zuhause ist nicht mehr da.

Einblicke in das Venezuela nach der Krise im Jahr 2014

© Fabiola Ferrero

Alexandra Baeza trocknet die Wäsche ihrer Enkelin vor einem Krankenhaus in Ciudad Bolivar. Die elf Monate alte Luciannys wurde hier im Januar 2020 – wie viele andere Kleinkinder – wegen Unterernährung behandelt. Präsident Nicolas Maduro verneinte, dass in Venezuela eine Hungersnot herrsche.

© Fabiola Ferrero

Menschen stehen im Regen Schlange, um etwas Reis zu ergattern. Manche warten schon seit vier Uhr morgens vor dem Laden: Jede Person darf nur einen Sack Reis kaufen.

© Fabiola Ferrero

April 2017: Eine Sicherheitsbeamtin hält einen zerkratzten Schutzschild vor sich. Während eines Protests der Opposition hat ein Mann sie wiederholt getreten.

© Fabiola Ferrero

Die 27-jährige Henrixy Sanchez liegt während des ersten Corona-Lockdowns in einem kahlen Raum in der kolumbianischen Hauptstadt Bogota. Sie war erst kurz vor Ausbruch der Pandemie aus Venezuela hierher geflohen.

© Fabiola Ferrero

April 2017: Demonstranten schützen sich mit Plastikbrillen und Tüchern vor Tränengas. Sie haben sich unter eine Brücke in Caracas geflüchtet, nachdem die Nationalgarde ihren Protestzug mit Gummigeschossen gewaltsam aufgelöst hatte.

© Fabiola Ferrero

Die heruntergekommene Fassade des Parque Central in Caracas im August 2021. Der riesige Wohnkomplex mit angeschlossenem Messe-, Einkaufs- und Kulturzentrum galt in den 1980er-Jahren als eine der wichtigsten urbanen Entwicklungen Lateinamerikas.

© Fabiola Ferrero

August 2021: Ein Paar tanzt einen einsamen Tango in einem leerstehenden Teil des einst ikonischen Parque-Central-Komplexes im Zentrum von Caracas.

© Fabiola Ferrero

Ein bunter Guacamaya-Papagei sitzt trotz starken Regens auf einem Holzgeländer am Rand von Caracas.

© Fabiola Ferrero

November 2020: Ein Mann trägt eine Frau über den Tachira-Fluss, der Kolumbien und Venezuela trennt. Obwohl die Brücke geschlossen wurde, überqueren hier täglich rund 450 Venezolaner die Grenze in Richtung Kolumbien. Zugleich kehren jeden Tag rund 200 Migranten nach Venezuela zurück.

© Fabiola Ferrero

Eine Migrantin aus Venezuela schaut aus dem Fenster ihrer Unterkunft in Juan Rey, einem Viertel am Rand der kolumbianischen Hauptstadt Bogota

Über die Journalistinnen

Fabiola Ferrero (geb. 1991 in Caracas) ist Stipendiatin der Magnum Foundation und des World Press Photo 6x6 Talent Program. Die Fotojournalistin pendelt zwischen Venezuela und Kolumbien. Sie ist Mitglied von Ruda, einem lateinamerikanischen Fotografinnen-Kollektiv.

Karen Naundorf (geb. 1975 in Würzburg) absolvierte die Henri-Nannen-Journalistenschule und ist heute Korrespondentin des Schweizer Fernsehens (SRF) und des Weltreporter-Netzwerks in Südamerika. Zurzeit arbeitet sie an einem Projekt zum Thema Femizide durch Mitglieder der Sicherheitskräfte in Argentinien, unterstützt vom Pulitzer Center on Crisis Reporting.