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Rangliste der Pressefreiheit — Platz 21 von 180
Corona-Apps 15.05.2020

Digitale Überwachung bedroht Pressefreiheit

Tippen auf dem Smartphone
©picture alliance/ Sven Simon

Reporter ohne Grenzen (RSF) warnt erneut vor den Folgen zunehmender digitaler Überwachung für Pressefreiheit und Menschenrechte. Die Corona-Krise beschleunigt die Entwicklung digitaler Technologien zur Verfolgung und Kontrolle von Kontakten und Bewegungsströmen in nie dagewesener Weise. Zugleich werden Überwachungsmaßnahmen des öffentlichen Raums vielerorts verschärft, Grenzen der behördlichen Zugriffsrechte auf persönliche Daten auch in demokratischen Staaten aufgeweicht. Im Kontext teils gravierender neuer Einschränkungen unabhängiger Berichterstattung zu Covid-19 unterstreicht RSF die Notwendigkeit des Schutzes von Journalistinnen und Journalisten vor digitaler Überwachung und verweist auf die Mindestanforderungen an Corona-Apps zur Wahrung von Anonymität und Quellenschutz

“Jegliche Form des Contact Tracings birgt ein erhebliches Missbrauchspotenzial. In zahlreichen Staaten beobachten wir eine gezielte Ausweitung des Einsatzes digitaler Technologien, die weder wissenschaftlich notwendig noch mit der rechtsstaatlichen Abwägung verschiedener Grundrechte zu rechtfertigen ist”, sagte Christian Mihr, Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen. “Freiwilligkeit, Datenschutz und Transparenz müssen im Vordergrund des Einsatzes digitaler Technologien zur Eindämmung des Virus stehen. Der Schutz von Medienschaffenden vor Überwachung ist grundlegende Voraussetzung für die Recherche und Verbreitung unabhängiger Informationen, ohne die eine effektive Bekämpfung des Virus nicht möglich ist.”

Der MIT Technology Review Covid Tracing Tracker listet derzeit 25 Staaten, in denen Apps zur Bluetooth-basierten Kontaktnachverfolgung und/oder Standortdatenauswertung zum Einsatz kommen. Das Portal TopVPN zählt auch Apps aus privaten Initiativen und informiert über 47 Anwendungen, wovon gut die Hälfte keine Angaben zur Länge der Datenspeicherung macht. 60 Prozent der genannten Apps geben laut TopVPN keine Auskünfte über Maßnahmen zur Sicherung der Anonymität der Nutzerinnen und Nutzer. 

Überwachung und Informationskontrolle in China und Indien

Allein in den bevölkerungsreichsten Staaten China und Indien nutzen Schätzungen zufolge derweil knapp eine Milliarde Menschen Tracing- und Tracking-Apps, die den jeweiligen Regierungen Zugang zu Standortdaten, Bewegungsmustern und mindestens im Fall der indischen “Aarogya Setu”-App auch Informationen zu Kontakten der Nutzerinnen und Nutzer gewähren. Transparenz, Datenschutzvorgaben zur Sicherung von Anonymität und eindeutige Löschfristen fehlen, gleichzeitig forcieren beide Staaten die zwangsweise Nutzung der Anwendungen. China macht sie zur Voraussetzung zur Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel, zum Betreten von Parks, Krankenhäusern, Restaurants und Fitnessstudios. Die indische App wurde zunächst zur freiwilligen Nutzung zur Verfügung gestellt, seit Anfang Mai sind Angestellte der öffentlichen Verwaltung sowie wieder eröffnender Firmen und Passagiere einzelner Zuglinien gezwungen die App zu installieren

Beide Staaten unterdrücken derweil unabhängige Berichterstattung und bemühen sich um staatliche Kontrolle des Informationsflusses bezüglich Covid-19. Medienschaffende in Indien sind angehalten, sich in ihrer Berichterstattung auf offizielle Informationen der Regierungsbehörden zu beschränken, regierungskritische Journalistinnen und Journalisten wurden wiederholt der Verbreitung von “Fake News” und Diffamierung bezichtigt. Die bestehende Repression in China hat sich in der Corona-Krise deutlich verschärft, auch Ärzte, Bürgerjournalistinnen und -journalisten und Social Media-Nutzerinnen und -Nutzer sind von Zensur und willkürlichen Verhaftungen betroffen. Die effektive Verpflichtung zur Nutzung von Gesundheitsapps, gepaart mit öffentlichen Kontrollen und weitverbreiteter KI-unterstützter Videoüberwachung bedeutet eine weitere nicht hinnehmbare Einschränkung der Pressefreiheit. 

Ortung und Kontrolle von Quarantänebestimmungen

Auch in Argentinien sind Menschen teils gezwungen, die “Cuidar”-App zu installieren und damit eine Ortung ihres Telefons zu ermöglichen. Es mehren sich zudem Pflichten zur Installation von Apps zur Überwachung von Quarantänebestimmungen, so zum Beispiel in der Türkei, Hongkong und Ecuador.

Heftige Kritik an unverhältnismäßigen Einschränkungen der Pressefreiheit übte in der vergangenen Woche überdies die Gewerkschaft der Journalisten und Medienschaffenden. In mehreren russischen Städten ist ein digitaler Passierschein zum Betreten des öffentlichen Raums notwendig. Die Nutzung von Gesichtserkennungssystemen im öffentlichen Raum wurde zuletzt erheblich ausgeweitet

Israels Höchstes Gericht hat die Überwachung von Handydaten von Erkrankten durch den Geheimdienst Shin Bet Ende April vorerst verboten. Journalistinnen und Journalisten müssten überdies die Möglichkeit zur Erwirkung einer Sperre zum Schutz ihrer Quellen erhalten, urteilte das Gericht. Entschieden würde dies allerdings auf Einzelfallbasis

Diskussion um Tracing-Apps und Überwachung des öffentlichen Raums in Europa

Während europäische Staaten weiterhin über zentrale vs. dezentrale Contact Tracing-Lösungen und das richtige Maß an Freiwilligkeit der Nutzung einer solchen App diskutieren, drängt die EU-Kommission mit Blick auf baldige Grenzöffnungen auf die Sicherung der Interoperabilität der Anwendungen. Wie der Tagesspiegel Background Digitalisierung & KI berichtet, sieht eine von der Kommission entwickelte Roadmap für Tourismus und Transport auch den Einsatz von KI-Technologie und “entsprechende Maßnahmen zur Überwachung von Distanzvorschriften [...] in besonders stark frequentierten öffentlichen Orten” vor. 

Die öffentliche Debatte verschiebt sich zunehmend zugunsten vermehrter staatlicher Eingriffe in die informationelle Selbstbestimmung. Darüber zeigt sich Reporter ohne Grenzen besorgt und warnt vor einer Normalisierung digitaler Überwachungsmaßnahmen in Folge der Krise. RSF verweist überdies auf seine Empfehlungen zu Mindestanforderungen an Corona-Apps zur Wahrung von Anonymität und Quellenschutz sowie auf das gemeinsame Statement zahlreicher zivilgesellschaftlicher Organisationen, darunter RSF, zur strikten Achtung der Menschenrechte beim Einsatz digitaler Technologien zur Eindämmung des Corona-Virus.



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