Türkei 16.09.2010

Ein Stück Gerechtigkeit im Fall des ermordeten Journalisten Hrant Dink

© AP

Der Europäische Gerichtshof für Menschenreche (EGMR) hat am 14. September ein wegweisendes Urteil im Fall des ermordeten Istanbuler Journalisten Hrant Dink gesprochen. Der EGMR konstatiert einstimmig die Mitverantwortung des türkischen Staates für die Ermordung des Herausgebers der armenischsprachigen Zeitung Agos. Dink wurde am 19. Januar 2007 vor dem Redaktionsgebäude des Blattes von einem jugendlichen Extremisten niedergeschossen.

Reporter ohne Grenzen (ROG) begrüßt, dass die Straßburger Richter der Klage von Rakel Dink, der Witwe des Ermordeten, stattgegeben und den türkischen Staat zur Zahlung einer erheblichen Entschädigungssumme an Dinks Familie verurteilt haben.

Noch bedeutsamer ist die Feststellung des Gerichts, dass der türkische Staat die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzt hat, indem er versäumte, das Leben des Journalisten zu schützen, obwohl die staatlichen Organe (allen voran der Geheimdienst MIT) über die Absichten der rechtsradikalen Täter aus erster Quelle informiert waren. Da Hrant Dink vor allem wegen seiner publizistischen Tätigkeit ermordet wurde, erkennt der EGMR in der Untätigkeit der türkischen Regierung zugleich einen gravierenden Verstoß gegen die Freiheit der Meinungsäußerung.

Hrant Dink hatte in vielen Artikeln und öffentlichen Reden kritisiert, dass die türkische Öffentlichkeit die systematische Ermordung von Hunderttausenden Armeniern während des Ersten Weltkriegs nicht zur Kenntnis nehme oder sogar ausdrücklich leugne. Dink wurde von nationalistischen Gruppen denunziert und bedroht, obwohl er zugleich auch die armenische Diaspora wegen ihrer starren Haltung gegenüber der Türkei kritisierte.

Im Oktober 2005 wurde er von einem Istanbuler Gericht wegen „Herabwürdigung des Türkentums“ zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Dieses Urteil wurde – trotz der rechtlichen Einwände von Seiten der Regierung Erdogan – durch die höchste Berufungsinstanz bestätigt. Die nationalistischen Kreise haben die Entscheidung als juristischen Flankenschutz für ihre Kampagne gegen den kritischen Publizisten Dink wahrgenommen.

Diese Entscheidung des obersten türkischen Berufungsgerichts wurde vom EGMR in seinem Urteil ausdrücklich als Angriff auf die Pressefreiheit bezeichnet: Die Suche nach der historischen Wahrheit sei ein integraler Bestandteil des Rechts auf freie Meinungsäußerung. Es gehöre deshalb zu den Pflichten des Staates, dafür zu sorgen, dass die Bürger ihre Meinung frei von Angst ausdrücken können.

ROG begrüßt das Urteil des EGMR auch deshalb, weil es in der Türkei die Voraussetzungen für eine öffentliche Debatte über sensible Themen verbessert, wozu nicht nur die armenische, sondern auch die kurdische Frage gehört. Desgleichen begrüßt ROG die erste Reaktion der türkischen Regierung, die durch das Außenministerium erklären ließ, dass sie den durch das Urteil festgestellten Verpflichtungen nachkommen und alles unternehmen werde, „um ähnliche Rechtsverletzungen in Zukunft zu verhindern“.

Ob das Straßburger Urteil auch die türkischen Justizorgane beeindruckt, wird sich in weiteren Verlauf des Prozesses erweisen, der vor einem Istanbuler Gericht gegen einige der mutmaßlichen Mörder von Hran Dink anhängig ist. Bislang sind die Richter den vielfachen Hinweisen auf eine aktive Beteiligung des „tiefen Staats“, das heißt eines Geflechtes von Polizei, Geheimdiensten und gewaltbereiten Nationalisten, am Mordanschlag gegen Dink nicht systematisch nachgegangen. Die nächste Verhandlung soll am 25. Oktober stattfinden.


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