22.08.2008

Olympische Spiele katastrophal für Meinungsfreiheit in China

Zwei Tage vor der offiziellen Abschlusszeremonie in Peking, zieht Reporter ohne Grenzen (ROG) eine negative Bilanz für die Lage der Menschenrechte während der Spiele in China. Medien konnten zwar frei von den Wettkämpfen berichten. Doch bei Demonstrationen und Recherchen zu heiklen Themen kam es wiederholt zu Behinderungen durch Sicherheitskräfte in Uniform und Zivil.

 

„Wir hatten es befürchtet. Die Olympischen Spiele in Peking waren überschattet von Festnahmen, Verurteilungen, Zensur, Überwachung und Schikanen. Über 100 Journalisten, Blogger und Dissidenten waren davon betroffen“, sagte Robert Ménard, Generalsekretär von Reporter ohne Grenzen, heute bei einer Pressekonferenz in Paris.

 

„An diese Unterdrückung wird man sich erinnern, wenn man an die Olympischen Spiele in Peking denkt. Und für dieses Versagen muss auch das Internationale Olympische Komitee (IOC) Verantwortung übernehmen. Die Mitglieder des IOC müssen die richtigen Schlüsse aus diesen Erfahrungen ziehen und sie umsetzen, wenn sie im nächsten Jahr den Nachfolger von Jaques Rogge wählen.“

 

„Wir fordern weiter, dass die Achtung der Meinungsfreiheit eines der Auswahlkriterien wird, nach denen olympische Austragungsstätten ausgesucht werden. Die Olympische Bewegung wiederholte bereits den Peking-Fehler bei der Vergabe der Winterspiele 2014 an Sotchi in Russland. Reporter ohne Grenzen wird sich daher auch weiterhin für Pressefreiheit während großer Sportereignisse einsetzen.“

 

„Wir grüßen diejenigen in China und im Ausland, die nicht aufgehört haben, mehr Meinungsfreiheit bei den Olympischen Spielen einzufordern“, fügte Ménard hinzu und kündigte an: „Wir bleiben wachsam für den Fall, dass es nach den Spielen zu einer neuen Welle der Repression kommt.“

 

Seit dem Beginn der Spiele am 8. August ist kein politischer Gefangener frei gelassen worden. Die Haftbedingungen und der Gesundheitszustand bei einigen der Inhaftierten, wie etwa Sun Lin, Huang Qi und Hu Jia, verschlechterten sich im Laufe der Spiele. Seit Anfang des Jahres wurden bereits 31 Journalisten, Blogger und Aktivisten für Meinungsfreiheit verhaftet oder zu Gefängnisstrafen verurteilt.

 

Die Überwachung ausländischer Journalisten wurde im Vorfeld der Spiele verschärft. „Sie folgen mir ständig, machen Fotos und filmen mich“, sagte eine Journalistin, die in Peking für eine ausländische Nachrichtenagentur arbeitet. „Ich denke zweimal darüber nach, ob ich Chinesen zu heiklen Themen interviewe, denn ich fürchte, sie könnten festgenommen werden.“

 

Versprechen bezüglich der Pressefreiheit kamen von höchster chinesischer Stelle. China werde die Arbeit ausländischer Journalisten „erleichtern... sowohl vor als auch nach den Olympischen Spielen in Peking“, sagte Präsident Hu Jintao am 1. August im Beisein der ausländischen Presse. Liu Binjie, zuständig für die Verwaltung der Presse und der Publikationen, kündigte an, die „offene Tür“ für die ausländische Presse werde sich auch nach den Spielen nicht schließen.

 

Bilanz in Zahlen

Mindestens 22 ausländische Journalisten wurden Opfer von Übergriffen, festgenommen, oder anderweitig in ihrer Arbeit behindert. Zwei US Video-Blogger, Brian Conley und Jeffrey Rae, sind momentan in Haft, weil sie über Pro Tibet-Aktivitäten berichtet hatten. Wegen „Störung der öffentlichen Ordnung“ wurden sie gemeinsam mit den vier unten genannten Tibetaktivisten zu zehn Tagen Gefängnis verurteilt. Reporter ohne Grenzen fordert ihre umgehende Freilassung.

 

Mindestens 50 Pekinger Menschenrechtler wurden unter Hausarrest gestellt, schikaniert oder gezwungen, die Stadt zu verlassen. Zeng Jinyan, Bloggerin und Frau des inhaftierten Hu Jia, ist seit dem 7. August verschwunden.

 

Mindestens 15 chinesische Staatsbürger wurden festgenommen, weil sie Demonstrationen beantragt hatten. Dutzende hielt die Polizei von der Einreise nach Peking ab, unter ihnen Blogger Zhou „Zola“ Shuguang und der behinderte Bittsteller Chen Xijuan.

 

Mindestens 47 Pro Tibet-Aktivisten, vor allem Mitglieder der Gruppe „Studenten für ein freies Tibet“, wurden in Peking festgenommen. Unter ihnen auch ein Deutscher tibetischer Herkunft, den die Polizei zusammen mit drei weiteren Aktivisten, zwei Amerikanern und einem Briten, am 19. August in Peking verhaftete.

 

 

Ausländische Presse in China

Im Jahr 2001 versprach Wang Wei „vollständige Pressefreiheit“ während der Olympischen Spiele. Dieses Versprechen wurde gebrochen.

 
1. Gewalt und Behinderungen: Vom 6. bis 22. August hat Reporter ohne Grenzen 22 Vorfälle in China dokumentiert. Ordnungsgemäß akkreditierte Journalisten wie der britische Fernsehreporter John Ray wurden grob behandelt. In Kashgar in Xinjiang nahm die Polizei zwei japanische Journalisten fest.

 
2. Eingeschränkte Bewegungsfreiheit: Zwar konnten Journalisten nach Xinjiang reisen, kamen aber nur schwerlich nach Tibet. Sicherheitskräfte hielten die ausländischen Medien davon ab, die Bloggerin Zeng Jinyan zu Hause zu interviewen. In den Wochen vor dem Beginn der Spiele ließen sie mehrere Journalisten nicht nach Sichuan, das am 12. Mai von einem verheerenden Endbeben erschüttert wurde.

 
3. Keine freie Wahl der Interviewpartner: Viele Journalisten beklagten, die Polizei und auch einige Zivilisten hätten bei Interviews mit Chinesen eingegriffen. Eine Journalistin einer ausländischen Nachrichtenagentur sagte Reporter ohne Grenzen, mindestens fünf ihrer Gesprächspartner seien in nur einer Woche nach den Interviews festgenommen worden.

 
4. Visaanträge abgelehnt: Ein Journalist einer Hong Konger Tageszeitung und ein Reporter der tibetischen Sprachfassung von „Radio Free Asia“ bekamen keine Visa, obwohl sie für die Spiele akkreditiert waren. Chinesische Botschaften stellten auch keine Visa für sechs Mitglieder von Reporter ohne Grenzen aus.

 

Während der Pressekonferenzen des Pekinger Organisationskomitees für die Olympischen Spiele (BOCOG) weigerten sich der BOCOG Vizepräsident Wang Wei und andere Repräsentanten, die aufgeführten Vorfälle zu kommentieren. Das BOCOG sagte sogar einige Pressekonferenzen mit Zustimmung des IOCs ab, nach dem englischsprachige Journalisten zu beharrlich nachgehakt hatten.

 

Chinesische Behörden versprachen, dass die im Januar 2007 erlassenen Freiheiten für ausländische Journalisten auch nach dem Ende der Spiele gelten würden. Doch bisher ist noch keine verbindliche Regel dazu veröffentlicht worden. Bewegungsfreiheit und freie Wahl der Gesprächspartner gelten daher lediglich bis nach den Paralympics im Oktober.

 

Reporter ohne Grenzen wirft der chinesischen Regierung vor, sie mache die Aufhebung der zeitlichen Befristung dieser Freiheiten vom konformen Benehmen der Medien abhängig.

 


Demonstrationsfreiheit

Die Organisatoren der Spiele hatten bestimmte Plätze für Proteste in Peking vorgesehen. Doch kein einziger von 77 gestellten Anträgen wurde genehmigt. Im Gegenteil:

Mindestens 15 Chinesen wurden verhaftet, weil sie Demonstrationen anmelden wollten, darunter zwei knapp 80 Jahre alte Frauen. Sie wurden zur Umerziehung in Arbeitslager geschickt.

Chinesische Behörden unterstellten den angehenden Demonstranten verbrecherische Absichten und verurteilten sie dafür. Das IOC warf der chinesischen Regierung vor, ihre Versprechen in diesem Punkt gebrochen zu haben.

Da freies Demonstrieren in Peking nicht möglich war, kam es zu nicht genehmigten Straßenprotesten verschiedener internationaler Organisationen, die auch Pressekonferenzen in Hotelzimmern abhielten.

Reporter ohne Grenzen strahlte am 8. August in Peking FM Radioprogramme auf Mandarin und Englisch aus. Die Aktion richtete sich gegen das staatliche Nachrichten- und Informationsmonopol und gegen Störungen internationaler Radiostationen, die auf Chinesisch, Tibetisch und Uigurisch berichten.

 

 

Gefährdete Dissidenten

„Ich hoffe, dass die Spiele 2008 schnell vorbei sind, denn sie haben uns nur viel Leid gebracht“, sagte die Frau eines „olympischen Gefangenen“ zu Reporter ohne

Grenzen. Rund zehn Menschenrechtler wurden im Vorfeld der Spiele festgenommen und zum Teil wegen ihrer Kritik an den olympischen Spielen zu Freiheitsstrafen verurteilt. Oft vielen die Strafen sehr streng aus. Yang Chunlin wurde zu fünf Jahren Haft verurteilt und betrat den Gerichtsaal in Ketten. Hu Jia erhielt im April dreieinhalb Jahre Gefängnis.

Bekannte Persönlichkeiten der Menschenrechtsbewegung wie Dang Zilin von den „Müttern von Tiananmen“ oder Wan Yanhai, Geschäftsführer einer NGO, die sich um AIDS-Kranke kümmert, mussten aus Angst vor Verfolgung während der Spiele die Stadt verlassen. Zeng Jinyan ist seit dem 7. August verschwunden.

Viele Menschenrechtler und Einwohner der Provinz Xinjiang befürchten Repressionen nach den Spielen. Reporter ohne Grenzen veröffentlichte am 20. August ein Dokument, indem die  Polizei angewiesen wird, gegen Chinesen zu ermitteln, die in Interviews mit ausländischen Medien die Regierung kritisierten. Auch die Journalisten sollen überwacht werden.

Reporter ohne Grenzen befürchtet, dass die Polizei ihre Überwachung von Menschenrechtlern und der Bevölkerung in Xinjiang und Tibet verschärfen wird, sobald die internationalen Medien China verlassen haben.

 

 

Internetzensur

Reporter ohne Grenzen hat bestätigt, dass in China - auch im internationalen Pressezentrum -  noch immer rund 30 Webseiten von Menschenrechtsorganisationen und chinesischsprachigen Nachrichtenseiten gesperrt sind. Kürzlich wurde auch die Webseite von iTunes geblockt.
Besonders in Tibet kommen Internetnutzer nur schwer an Informationen, denn viele Seiten die vor den Spielen zugänglich waren, bleiben in Tibet gesperrt.

Das für Onlinezensur zuständige Ministerium verschärfte seine Überwachungen und Kontrollen während der Spiele. Chinesische Menschenrechtsverteidiger

veröffentlichten ein Memo des Internet Service Providers „Xinwang Hulian“ an Onlineredakteure. Dort hieß es: „Um die Informationssicherheit im Internet während der Olympischen Spiele in Peking zu garantieren und um Aufforderungen von höchster Stelle Folge zu leisten, wird „Xingwang Hulian“ all seine Seiten überprüfen.“ In Diskussionsforen ging man gegen kritische Mitglieder vor und verwehrte ihnen den Zugriff während der Spiele.

Während der Spiele, attackierten Hacker verstärkt Webseiten von Menschenrechtsorganisationen wie beispielsweise die chinesische Internetpublikation Yizhou Xiwen oder die internationale Seite von Reporter ohne Grenzen www.rsf.org.

 

 

Propaganda und Enthüllungen in der chinesischen Presse

Weniger konforme Zeitungen brachten einige für die Regierung peinliche Artikel. Das Wirtschaftsmagazin „Caijing“ etwa berichtete über den Selbstmord eines ranghohen Beamten während der Spiele.
Die Tageszeitung „Xinjingbao“ („Pekinger Nachrichten“) wurde jedoch wegen eines versehentlich veröffentlichten Fotos sanktioniert. Das Bild zeigte ein Opfer des

Massakers am Tiananmen Platz. Die Ausgaben der Zeitung wurden beschlagnahmt und die Website zensiert.

Das Propagandaministerium verfolgte aufmerksam die Berichterstattung und gab regelmäßig einschränkende Vorgaben an die Medien weiter. Über die manipulierten

Bilder bei der Eröffnungszeremonie beispielsweise wurde nicht berichtet.

Zeitungen wie die „Global Times“ verhielten sich gegenüber der ausländischen Presse sehr feindselig. Bei den staatlichen Medien standen Berichte im Vordergrund, die die Leistungen der Organisatoren der Spiele lobten. Anti-olympische Proteste in China und im Ausland kamen nicht vor.

 

 

Verantwortung des Internationalen Olympischen Komitees

Als das IOC 2001 den Zuschlag für die Olympischen Spiele an China gab, war es informiert über die Lage der Menschenrechte. Doch während der sieben Jahre bis zum Beginn der Spiele war das IOC und sein Präsident, Jacques Rogge, unfähig, die chinesische Regierung zu  einer Verbesserung der Meinungsfreiheit zu bewegen.

Das IOC hatte die Pflicht, sicherzustellen, dass der Geist der olympische Charta respektiert wird. Sport soll der harmonischen Entwicklung der Menschen dienen, eine friedliche Gesellschaft fördern und die Menschenwürde achten, heißt es dort. Doch das IOC hat seine damit verbundenen Pflichten versäumt.

Anstatt die Würde chinesischer Menschenrechtler zu respektieren, ließ Rogge den Athleten verbieten, Abzeichen mit der Aufschrift „Für eine bessere Welt“ zu tragen. Auch schloss er einen senegalesischen Trainer aus, der „zuerst die Freundschaft, dann den Wettkampf“ forderte.

 

Reporter ohne Grenzen fordert die Verantwortlichen der Olympischen Bewegung auf, die bisherigen Kriterien für die Auswahl der Austragungsorte zu hinterfragen. Warum nicht beispielsweise Presse- und Meinungsfreiheit im Gastgeberland in den Kriterienkatalog aufnehmen?


Das IOC könnte in seine Entscheidung miteinbeziehen, ob es im Austragungsland freie Medien gibt, ob und wie viel zensiert wird und ob nationale und ausländische Journalisten unabhängig berichten können.

Link zur Meldung vom 20. August "Internal Police Documents Reveal Strategy for Foreign Journalists" auf Englisch Opens external link in new window

 

 

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