Türkei 14.07.2017

Schwarzes Jahr für Journalisten

© picture alliance / AA

Ein Jahr nach dem Putschversuch ist die Lage der Pressefreiheit in der Türkei desolat. Die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan hat den Ausnahmezustand für eine beispiellose Hexenjagd auf ihre Kritiker in den Medien genutzt.

„Die türkischen Behörden müssen sofort alle Journalisten freilassen, die im Zusammenhang mit ihrer Arbeit im Gefängnis sitzen“, sagte der Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen, Christian Mihr. „Dutzende Journalisten werden über lange Zeiträume willkürlich inhaftiert oder in Isolationshaft gehalten. Solange es dagegen keinen realistischen Rechtsweg in der Türkei gibt, sollte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte diese Tragödie schnellstmöglich beenden.“

 

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Unter dem Vorwand, gegen die Putschisten vorzugehen, haben Regierung und Justiz Dutzende Medien geschlossen. Mit derzeit rund 165 Journalisten im Gefängnis ist die Türkei das Land mit den meisten inhaftierten Medienschaffenden weltweit. Rund 130 Medien bleiben geschlossen. Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht die Türkei auf Platz 155 von 180 Ländern weltweit.

Erst die Haft, dann der Prozess

Dutzende Journalisten sitzen seit bald einem Jahr im Gefängnis. Doch erst seit dem Frühjahr legt die Justiz allmählich ihre Anklageschriften vor, und erst jetzt beginnen die großen Prozesse gegen Medienschaffende. Systematisch hält die Justiz mit Hilfe von Untersuchungshaft Journalisten über längere Zeiträume fest und und lehnt ohne substanzielle juristische Begründung Anträge auf Haftverschonung ab, so auch in den Fällen des deutsch-türkischen Welt-Korrespondenten Deniz Yücel und der deutschen Journalistin Mesale Tolu.

Eine unrühmliche Rolle spielen dabei die „Friedensrichter“, eine im Jahr 2014 unter dem damaligen Ministerpräsidenten Erdogan geschaffene neue Instanz der Strafjustiz. Sie können unter anderem Haftbefehle ausstellen, Durchsuchungen und Beschlagnahmen anordnen. Von diesen Kompetenzen machen sie reichlich und im Sinne der Regierung Gebrauch.

In Untersuchungshaft sind beispielsweise 20 von 30 Mitarbeitern der Tageszeitung Zaman, denen ab dem 18. September in Istanbul der Prozess gemacht werden soll. Jedem von ihnen – darunter bekannten Journalisten wie Sahin Alpay, Mümtazer Türköne und Mustafa Ünal, drohen bis zu drei lebenslange Haftstrafen. Angelastet wird ihnen die Arbeit für Zaman, eine kurz nach dem Putschversuch per Dekret geschlossene Oppositionszeitung.

In der Anklageschrift wird die Zeitung als „Presseorgan der FETÖ/PDY“ bezeichnet – die amtliche Abkürzung für die Bewegung des Exil-Predigers Fethullah Gülen, den die Regierung als Urheber des Putschversuchs betrachtet. Dementsprechend wird den Journalisten auch „Mitgliedschaft in einer verbotenen Organisation“ und Beteiligung am Putschversuch vorgeworfen. Weil er Zaman als Anwalt vertreten hat, droht ferner dem ehemaligen Kolumnisten Orhan Kemal Cengiz eine lebenslange Haftstrafe.

Am 31. März wurde die Freilassung 21 anderer Journalisten aus der Untersuchungshaft in letzter Minute gestoppt; die für den Haftverschonungsbeschluss verantwortlichen Richter wurden suspendiert. Die juristische Rechtfertigung lieferte die Staatsanwaltschaft Istanbul, indem sie neue Ermittlungen wegen „Mittäterschaft“ beim Umsturzversuch gegen 13 der Betroffenen einleitete, darunter Murat Aksoy und Atilla Tas. Sowohl wegen des neuen Vorwurfs als auch wegen der ursprünglichen Anschuldigung der Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung müssen sie sich nun ab dem 16. August vor Gericht verantworten. Ihnen drohen jeweils zwei lebenslange Haftstrafen.

Die renommierten Journalisten Ahmet Altan, Mehmet Altan und Nazli Ilicak werden seit einem Jahr im Gefängnis sein, wenn am 19. September ihr Prozess in Istanbul fortgesetzt wird. Sie sind beschuldigt, in einer Fernsehsendung „unterschwellige Botschaften“ für den Putschversuch übermittelt zu haben. Ihnen und 14 weiteren Mitangeklagten drohen jeweils Haftstrafen von dreimal lebenslänglich plus weiteren 15 Jahren.

In anderen Landesteilen sind inzwischen einige Journalisten, denen Gülen-Verbindungen angelastet werden, unter Auflagen aus der Untersuchungshaft entlassen worden. So kamen in Antalya die Zaman-Korrespondenten Özkan Mayda und Osman Yakut am 24. Mai nach acht Monaten im Gefängnis frei. Weiterhin in Haft sind dagegen die Journalisten Aytekin Gezici und Abdullah Özyurt, die zu einer Gruppe von insgesamt 13 Beschuldigten gehören, denen in Adana wegen Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung der Prozess gemacht wird. Beide Verfahren dauern an und könnten mit langen Haftstrafen enden.

Neue Verhaftungswellen

In der übernächsten Woche – am 24. Juli – beginnt in Istanbul der Prozess gegen 19 journalistische und sonstige Mitarbeiter der unabhängigen Tageszeitung Cumhuriyet. Zwölf von ihnen sind schon seit sieben bis neun Monaten in Untersuchungshaft, darunter Chefredakteur Murat Sabuncu, der Kolumnist Kadri Gürsel, der Karikaturist Musa Kart und der Investigativreporter Ahmet Sik. Wegen der Berichterstattung der Zeitung werden ihnen Verbindungen zu verschiedenen „terroristischen“ Gruppen vorgeworfen. Ihnen drohen bis zu 43 Jahre Haft.

Infolge einer Twitter-Nachricht, die die Redaktion nach 55 Sekunden wieder löschte, wird inzwischen auch der Online-Chef von Cumhuriyet, Oguz Güven, wegen Propaganda für die Gülen-Bewegung juristisch verfolgt. Ihm drohen zehneinhalb Jahre Haft. Mitte Juni wurde er nach einem Monat in Untersuchungshaft unter Auflagen freigelassen.

Ins Visier der Justiz ist auch die Zeitung Sözcü geraten, ein weiteres der wenigen verbliebenen regierungskritischen Medien von landesweiter Bedeutung. Ihre Online-Nachrichtenchefin Mediha Olgun und ihr Reporter Gökmen Ulu sind seit dem 26. Mai in Haft, weil sie vor dem Putschversuch einen Artikel darüber veröffentlicht hatten, wo Präsident Erdogan seinen Urlaub verbrachte. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen „versuchten Mord am Präsidenten“ und Unterstützung der Gülen-Bewegung vor.

Ausnahmeregeln sind die Norm

Die systematische Verhängung von Untersuchungshaft ist nicht auf Fälle angeblicher Beteiligung an dem Umsturzversuch beschränkt. Kaum eine Woche vergeht, ohne dass weitere Journalisten willkürlich inhaftiert werden. Darunter sind etwa Tunca Ögreten und Ömer Celik, die seit Ende Dezember im Zusammenhang mit ihren Veröffentlichungen über Erdogans Schwiegersohn, Energieminister Berat Albayrak, in Untersuchungshaft sind.

Der Dokumentarfilmer Kazim Kizil verbrachte in Izmir fast drei Monate in Untersuchungshaft, bevor er am 10. Juli unter Auflagen freigelassen wurde. Ihm wird Beleidigung des Präsidenten in Twitter-Nachrichten vorgeworfen; verhaftet wurde er, während er über ein Demonstration berichten wollte.

Die deutsche Journalistin Mesale Tolu wurde am 30. April festgenommen und sitzt seit dem 6. Mai im türkischen Frauengefängnis Bakirköy in Untersuchungshaft. Ihr zweijähriges Kind befindet sich mit ihr im Gefängnis. Diese Woche wurden ihre Anwälte informiert, dass die Anklageschrift gegen sie fertiggestellt sei. Einsicht in das Dokument bekamen sie jedoch bislang nicht, da der Oberstaatsanwalt die Anklageschrift noch nicht genehmigt habe. Tolu arbeitete in Istanbul für den Radiosender Özgür Radyo und die Nachrichtenagentur Etha. Die Behörden werfen ihr offenbar Terrorpropaganda und Mitgliedschaft in einer Terrororganisation vor.

Auch gegen ihre verbliebenen Kritiker in der Kurdenfrage sind die Behörden mit Hilfe des Ausnahmezustands massiv vorgegangen. Die mehr denn je politisierte Justiz behandelt tendenziell alles, was mit diesem Thema zusammenhängt, als terroristische Aktivität. In den verschiedenen Prozessen gegen die Teilnehmer an einer Solidaritätskampagne mit der pro-kurdischen Zeitung Özgür Gündem wurde am 16. Mai erstmals eine nicht zur Bewährung ausgesetzte Haftstrafe verhängt: Ein Gericht in Istanbul verurteilte den Journalisten und Menschenrechtsaktivisten Murat Celikkan wegen „Propaganda für eine terroristische Organisation“ zu 18 Monaten Gefängnis.

Keine Haftverschonung trotz Krankheit, fortgesetzte Isolationshaft

Mehrere Journalisten wird trotz schwerer Gesundheitsprobleme eine Freilassung verwehrt. So wurde die Untersuchungshaft des 73 Jahre alten früheren Zaman-Kolumnisten Sahin Alpay im Hochsicherheitsgefängnis Silivri bei Istanbul trotz Atemwegs- und Herzerkrankungen und Diabetes immer wieder verlängert. Ebenso geht es der 72-jährigen Nazli Ilicak. Die junge Zaman-Reporterin Aysenur Parildak wird seit August 2016 festgehalten. Seit ihre von einem Gericht in Ankara angeordnete Freilassung im Mai in letzter Minute gestoppt wurde, ist ihr psychischer Zustand so schlecht, dass ihre Familie um ihr Leben fürchtet.

Eine weitere Art der juristischen Schikane ist die fortgesetzte Isolationshaft für Journalisten wie den Welt-Korrespondenten Deniz Yücel, der seit Februar in Untersuchungshaft sitzt. Teil der Isolation ist es, dass Besuche auf ein absolutes Minimum reduziert und der Briefverkehr eingeschränkt werden. Reporter ohne Grenzen betrachtet diese Art der Isolationshaft als Misshandlung.

Yücel wird wegen eines Interviews mit einem PKK-Anführer „Propaganda für eine terroristische Organisation“ vorgeworfen. Tatsächlich ist er eine Geisel im diplomatischen Streit zwischen den Regierungen der Türkei und Deutschlands; Präsident Erdogan hat ihn öffentlich als „Verräter“ und „Terrorist“ vorverurteilt. Yücel werden ausschließlich Kontakte zu seinen Anwälten und Familienangehörigen erlaubt. Eine Anklageschrift liegt noch immer nicht vor, und Yücels Anwälte haben bis heute keinen Einblick in seine Fallakte bekommen.

Europäischer Menschenrechtsgerichtshof als letzte Hoffnung

Das türkische Verfassungsgericht spielte in der Vergangenheit eine wichtige Rolle bei der Durchsetzung der Pressefreiheit. Doch seit der Verhängung des Ausnahmezustands ist das Gericht gelähmt. Obwohl viele der inhaftierten Journalisten das Verfassungsgericht angerufen haben, hat es noch zu keinem ihrer Fälle ein Urteil gesprochen. Immer mehr der inhaftierten Journalisten wenden sich deshalb an den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof (EGMR), dessen Entscheidungen bindend für die Türkei sind. Bislang wurden etwa 20 solche Beschwerden beim EGMR registriert, so unter anderem von Deniz Yücel, Sahin Alpay, Murat Aksoy, Ahmet Altan und Ahmet Sik.

Anfang Juni hat der EGMR nach zehn Monaten Abwarten und Verhandlungen seine Statuten geändert, um freier entscheiden zu können, in welcher Reihenfolge er seine Fälle abarbeitet. Fälle aus der Türkei, Russland und Aserbaidschan kann das Gericht nun mit Vorrang behandeln, auch wenn es bei ihnen nicht um die Rechte auf Leben und Gesundheit geht.

Der Deutsche Anwaltverein warf dem EGMR kürzlich außerdem vor, überzogene formelle Anforderungen an Verfahren aus der Türkei zu stellen. Angesichts der Zustände in der türkischen Justiz dürfe es nicht sein, dass das Straßburger Gericht immer wieder Verfahren mit der Begründung abweise, die Betroffenen hätten den Rechtsweg in der Türkei sei nicht ausgeschöpft.

Rechtsweg gegen Medienschließungen versperrt

Seit Verhängung des Ausnahmezustands wurden durch Dekrete mehr als 150 Medien ohne Richterbeschluss geschlossen. Der Medienpluralismus wurde damit effektiv auf ein paar wenigen Zeitungen mit geringer Auflage reduziert. Rund 20 der geschlossenen Medien durften ihn zwischen ihren Betrieb wieder aufnehmen, aber die meisten haben keine Einspruchsmöglichkeit. Der linksgerichtete Fernsehsender Hayatin Sesi, die Zeitung Özgür Gündem und einige andere Medien haben sich an das Verfassungsgericht gewandt, doch ohne Ergebnis. Die Anwälte des pro-kurdischen Fernsehsenders IMC haben sich deshalb ebenfalls den EGMR gewandt.

Einen Teil seiner Zuständigkeiten kann das Verfassungsgericht an eine neue Berufungskommission abgeben, die im Februar 2017 geschaffen wurde, um Kritik aus dem Ausland zu begegnen. Neben den Beschwerden geschlossener Medien, Vereine und Stiftungen soll diese Kommission die Einsprüche von rund 200.000 Menschen prüfen, die Ziele von Behördensanktionen geworden sind. Allerdings nimmt die Kommission ihre Arbeit erst am 23. Juli auf. Überdies bestehen ernsthafte Zweifel an ihrer Unabhängigkeit, da fünf ihrer sieben Mitglieder von der Regierung ernannt werden.

Ausreisesperren für Journalisten und Angehörige

Dass der Rechtsweg effektiv ausgeschaltet ist, bekommen auch die vielen Journalisten zu spüren, die seit Beginn des Ausnahmezustands mit Behördensanktionen wie dem Entzug amtlicher Presseausweise, der Annullierung ihrer Reisepässe oder der Beschlagnahme von Vermögen belegt wurden. Ein Beispiel ist der Journalist Kutlu Esendemir, der am 2. April am Flughafen Istanbul erfuhr, dass sein Reisepass für ungültig erklärt worden sei. Hintergrund sind Ermittlungen gegen die Zeitung Karar, für die Esendemir gearbeitet hat. Auf seine Beschwerde, die er drei Tage nach dem Vorfall bei der Staatsanwaltschaft Istanbul einlegte, hat er bislang keine Antwort erhalten.

Seit fast einem Jahr wird Dilek Dündar daran gehindert, die Türkei zu verlassen, um ihrem Ehemann, dem ehemaligen Cumhuriyet-Chefredakteur Can Dündar, in sein deutsches Exil zu folgen. Nachdem sie monatelang auf eine Erklärung des Justizministeriums wartete, hat Dündar das Verfassungsgericht angerufen. Eine Antwort steht noch aus.

In den vergangenen Monaten hat Reporter ohne Grenzen in zahlreichen Fällen Nothilfe für verfolgte Journalisten in der Türkei und im Exil geleistet.



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