19.06.2003

Tunesischer Online-Dissident erhält Preis für Freiheit im Internet von Reporter ohne Grenzen

Der tunesische Online-Dissident Zouhair Yahyaoui erhält am Donnerstag in Paris den Preis für "Freiheit im Internet", der erstmalig von der internationalen Menschenrechtsorganisation Reporter ohne Grenzen und GlobeNet gemeinsam vergeben wird. Der junge Betriebswirt sitzt seit 4. Juni 2002 in der Nähe von Tunis hinter Gittern, weil er es wagte, auf seiner Webseite www.TUNeSINE das Regime von Ben Ali zu kritisieren. Die Satire-Seite war gerade bei jungen Tunesiern sehr erfolgreich. Sie ist seitdem gesperrt. Mit dem Preis werden Internet-Nutzerinnen und -Nutzer geehrt, die sich in besonderer Weise für das Recht auf freie Information im Netz eingesetzt haben. Für Yahyaoui nimmt seine Verlobte Sophie Piekarec den Preis stellvertretend in Empfang.

"In Tunesien gibt es keine Pressefreiheit , das Internet wird streng kontrolliert . Willkürliche Verhaftungen angeblicher oder tatsächlicher Oppositioneller sind an der Tagesordnung. Yahyaoui hat kein Verbrechen begangen, er hat lediglich den Frust der Jugendlichen über die Verhältnisse zum Ausdruck gebracht. Er hat sich gegen ein Regime zur Wehr gesetzt, das einen der aufwendigsten überwachungsapparate für das Netz installiert hat," begründet Robert Ménard, Generalsekretär von Reporter ohne Grenzen, die Auszeichnung.

"Nach mehr als einem Jahr Haft unter unmenschlichen Bedingungen und nach drei Hungerstreiks ist Yahyaouis Gesundheit akut bedroht. Wir fordern erneut seine sofortige und bedingungslose Freilassung," erklärt Ménard weiter.

In einem parallel vorgestellten Bericht "The Internet under surveillance" warnt Reporter ohne Grenzen zugleich vor einer weltweit zunehmenden Zensur und Kontrolle im Netz. Der Bericht, der zum zweiten Mal erscheint, geht detailliert auf Einschränkungen der Informationsfreiheit im Netz ein, die in 60 Länder zwischen 2001 und 2003 vorgenommen wurden.

Hintergrund zum Fall:

Yahyaoui ist kein bekannter Regimekritiker, und er gehört zu keiner Partei. Er arbeitete in einem Internet-Café in einem Vorort von Tunis. Diesen Zugang zum Internet nutzt er, um im Juli 2001 unter dem Pseudonym Ettounsi einen offenen Brief des Richters Mokhtar Yahyaoui, seinem Onkel, an den Präsidenten Ben Ali zu verbreiten. In dem Brief wirft der Richter der tunesischen Justiz die totale Abhängigkeit vor. Schon bald darauf ist Yahyaouis anonyme Seite www.TUNeZINE sehr bekannt, nicht nur weil sie etablierten Oppositionellen ein Forum bietet, sondern weil sie frech und witzig gemacht, gerade junge Leute anspricht. Als Ben Ali in einer pompös inszenierten Volksabstimmung darüber abstimmen lässt, ob er bis 2009 im Amt bleiben dürfe, veranstaltet TUNeZINE am 26. Mai 2002 ein eigenes Referendum und lässt die Besucher entscheiden: Ist Tunesien eine Republik, ein Königreich, ein Zoo oder ein Gefängnis?

Gleich nachdem die Seite im Juli 2001 online geht, gerät www.TUNeZINE ins Visier der tunesischen Internetpolizei. Am 4. Juni schlägt sie schließlich zu. Yahyaoui wird mit großem Polizeiaufgebot an seinem Arbeitsplatz verhaftet. Bei den folgenden Verhören wird er von den Polizisten misshandelt, die so das Passwort, das nur er kennt, erpressen und das Online-Forum sperren. Seine Anwälte dürfen erst nach sieben Tagen Kontakt zu ihrem Mandanten aufnehmen. Während der gesamten Zeit der Untersuchung und des Prozesses wird die Verteidigung immer wieder schwer behindert. Am 10. Juli wird Yahyaoui vordergründig wegen "der Verbreitung falscher Nachrichten" und "betrügerischer Nutzung von Kommunikationsmitteln" zu 24 Monaten Haft verurteilt. Der wahre Grund der Verurteilung, sagen seine Anwälte, liegt in seinen kritischen Artikeln über Ben Ali.

Die Haftbedingungen im Gefängnis von Borj el Amri (circa 30 km außerhalb von Tunis), wo Yahyaoui einsitzt, sind miserabl. Etwa 100 Gefangene müssen sich eine Zelle teilen. Die hygienischen Zustände sind desolat. Vom 17. bis 30. Januar tritt Yahyaoui in den ersten von insgesamt drei Hungerstreiks, um gegen diese menschenverachtenden Bedingungen zu protestieren und seine Freilassung zu erzwingen. Nach Angaben der Familie, die ihn regelmäßig besucht, ist er sehr geschwächt. Die Wärter schikanieren ihn seit sein Fall öffentliche Aufmerksamkeit erregte, sie verschmutzen sein Essen, er darf keine Bücher lesen, seine Post wird gestohlen. Sein täglicher Ausgang ist gestrichen. Er wird von den Wachen bedroht. Gegenüber seiner Familie beklagt Yahyaoui mehrfach, dass die Bedingungen unerträglich für ihn seien.

Reporter ohne Grenzen fordert seit Juni 2002 in mehreren öffentlichen Stellungnahmen die sofortige und bedingungslose Freilassung des Cyber-Dissidenten und mobilisiert internationalen Protest. Zuletzt demonstrierte ROG gemeinsam mit tunesischen Menschenrechtsaktivisten im Februar vor dem Gefängnis in Tunesien.

Zouhair Yahyaoui ist einer von 51 Cyber-Dissidenten, die weltweit zur Zeit wegen ihrer online vertretenen Meinung hinter Gittern sitzen.

Gerne stellen wir Ihnen folgende Pressematerialien zur Verfügung:
- Foto von Zouhair Yahayaoui (300 dpi)
- Informationen zum Fall (Englisch und Französisch)
- Hintergrundinformationen zur Bedeutung des Internets und seiner Kontrolle
in Tunesien (Englisch)

Den Report "The Internet under surveillance" können Sie ab Donnerstag, auf unserer Website: www.reporter-ohne-grenzen.de direkt einsehen.

Ansprechpartnerin:
Sabina Strunk
Tel. (030) 615 85 85
presse@reporter-ohne-grenzen.de
www.reporter-ohne-grenzen.de / www.rsf.org

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