Russland 01.02.2021

Unabhängige Journalisten schützen

Ein Journalist mit Presse-Helm spricht auf einer Nawalny-Demonstration mit einem Mann in militärischer Uniform
Journalist bei Pro-Nawalny-Protest in St. Petersburg © Ivan Petrov / Tardigrada

Bei den Pro-Nawalny-Protesten in Russland wurden am Wochenende fast doppelt so viele Journalistinnen und Journalisten festgenommen oder eingeschüchtert wie eine Woche zuvor. Die unabhängige Gewerkschaft der Journalisten und Medienschaffenden zählte mindestens 104 Fälle, in denen die Rechte von Medienschaffenden verletzt wurden – der überwiegende Teil kurzzeitige Festnahmen während der Berichterstattung über die Demonstrationen am gestrigen Sonntag (31. Januar). Bei diversen Journalistinnen und Journalisten, die über die Proteste am 23. Januar berichtet hatten, fanden „präventive Hausbesuche“ statt. Für morgen ist eine weitere Gerichtsverhandlung gegen den Oppositionspolitiker Alexej Nawalny angesetzt, bei der es darum geht, eine frühere Bewährungsstrafe in Haft umzuwandeln.

„Wenn Medienschaffende, die über Demonstrationen berichten, unter dem Vorwand festgenommen werden, sie hätten aktiv an den Protesten teilgenommen, dann wird journalistische Arbeit unmöglich“, sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. „Wir fordern die russischen Behörden auf, die Arbeit von Journalistinnen und Journalisten nicht zu behindern und auch morgen beim Gerichtsverfahren gegen Nawalny unabhängige Berichterstattung zu ermöglichen.“

Mehr als einhundert Journalisten bei der Arbeit behindert

Russische Sicherheitskräfte gingen am gestrigen Sonntag massiv gegen Medienschaffende vor. Vor einer Woche hatte die Gewerkschaft der Journalisten und Medienschaffenden (JMWU) noch von 58 Verletzungen der Pressefreiheit berichtet und RSF dokumentierte mehr als 50 Festnahmen von Journalistinnen und Journalisten, bei denen die Polizei zum Teil  Gewalt anwendete. An diesem Wochenende zählte die JMWU 104 Behinderungen der Berichterstattung – vor allem kurzzeitige Festnahmen, aber auch 16 Fälle „präventiver Hausbesuche“, mit denen Sicherheitskräfte Medienschaffende vor Beginn der Demonstrationen einschüchtern wollten.

Am stärksten wurde die Berichterstattung von den Proteste am Wochenende in Moskau behindert (33 Fälle), weitere Fälle dokumentierte die JMWU in 32 anderen Städten (im Vergleich zu 23 Orten am vergangenen Wochenende). Die Polizei nahm sowohl Reporterinnen und Reporter bekannter überregionaler Medien fest (etwa der Zeitungen Kommersant und Nowaja Gaseta und der Radiosender Echo Moskwy und Radio Swoboda) als auch Berichterstattende kleinerer Portale wie Sota.Vision oder RusNews und von Regionalmedien wie Znak.com oder Yakutia.Info.

Chefredakteur von Mediazona festgenommen

Am Samstag (30. Januar) wurde der Journalist Sergej Smirnow vor seinem Haus in Moskau festgenommen, als er mit seinem kleinen Sohn spazieren gehen wollte. Smirnow ist Chefredakteur des Portals Mediazona, das über Strafvollzug, Polizeigewalt und Justizwillkür berichtet. Als Grund für seine Festnahme wurde zunächst die Teilnahme an einer Demonstration am 23. Januar genannt, dabei war der Journalist an diesem Tag zuhause gewesen.

Schließlich wurde Smirnow beschuldigt, über Twitter zu nicht genehmigten Protesten aufgerufen zu haben – weil er einen Witz darüber retweetet hatte, dass er dem Sänger einer bekannten Musik-Band ähnelt, welcher zu einer Demonstration für den Oppositionspolitiker Alexej Nawalny aufgerufen hatte. Redaktionen von mehr als 30 Medien forderten noch am Nachmittag die Freilassung von Smirnow. Unter der Auflage, am 3. Februar vor Gericht zu erscheinen, kam der Journalist am Samstagabend frei.

Hausdurchsuchungen und „präventive Warnungen“

Bereits am 27. Januar hatte die Polizei Smirnows Wohnung durchsucht und die Festplatte seines Computers eingezogen. Ähnliche „präventive Hausbesuche“ erhielten am 25. Januar der Chefredakteur des unabhängigen Senders Doschd, Tichon Dsjadko, und die Moskauer Umwelt-Journalistin Sofia Rusowa. Am 28. Januar erhielt Jelena Solowjowa, Journalistin der kremlkritischen Nowaja Gaseta, Besuch von Beamten, die sie darüber informierten, dass wegen der Teilnahme an einer nicht genehmigten Demonstration gegen sie ermittelt wird.

In Nischni Nowgorod, 400 Kilometer östlich von Moskau, suchte die Polizei die Verwandten von Margarita Murachtajewa auf – ebenfalls um sie darüber zu informieren, dass gegen die Journalistin wegen der angeblichen Teilnahme an einer Demonstration ermittelt wird, über die sie berichtet hatte. Murachtajewa arbeitet für die regionale Nachrichten-Webseite Kozapress, die ihre Mutter Irina Slawina vor vier Jahren gegründet hatte. Im Oktober hatte hatte sich Slawina, gegen die etliche Gerichtsverfahren liefen, nach einer Hausdurchsuchung aus Protest selbst verbrannt.

Strafverfahren unter Corona-Vorwand

Zunehmend werden in Russland Strafverfahren wegen der Verletzung „sanitär-epidemiologischer Regeln“ gegen Journalistinnen und Journalisten verhängt. Der Tatbestand war im Frühjahr 2020 wegen der Corona-Pandemie verschärft worden. Er kann nun auch wegen der angeblichen Teilnahme an nicht genehmigten Protesten angewendet werden, bei Verstößen drohen mehrere Jahre Haft. Gegen mehrere Medienschaffende laufen inzwischen Verfahren wegen der Verletzung „sanitär-epidemiologischer Regeln“, unter anderem gegen den Herausgeber der Seite Mediazona, Pjotr Wersilow, den Sportjournalisten Nikita Belogolowzew und die Radio-Journalistin Tatjana Felgengauer (Echo Moskwy).

Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht Russland auf Rang 149 von 180 Staaten.



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