Kasachstan 03.01.2022

Unruhen und Gewalt treffen auch Journalisten

Personen tragen einen Demonstranten in Kasachstan von der Straße. © picture alliance / dpa / TASS / Diana Matveyeva
Personen tragen einen Demonstranten in Kasachstan von der Straße. © picture alliance / dpa / TASS / Diana Matveyeva

Angesichts der Proteste in Kasachstan fordert Reporter ohne Grenzen (RSF) den kasachischen Präsidenten Tokajew auf, den Zugang zu Informationen und die freie Berichterstattung der Medienschaffenden vor Ort zu ermöglichen. Mehrfach war das Internet nahezu vollständig blockiert worden, auch Telefongespräche waren nicht möglich. Das macht es schwierig, unabhängig über die Vorgänge zu informieren. Zudem gibt es Berichte über Polizeigewalt, willkürliche Festnahmen und Übergriffe auf Journalistinnen und Journalisten. Auslöser der mit dem Jahreswechsel aufgeflammten Proteste in dem zentralasiatischen Land waren massive Preiserhöhungen für Flüssiggas. Mittlerweile bricht sich eine allgemeine Unzufriedenheit mit der Regierung Bahn. Seit dem Abend des 5. Januar gilt ein Ausnahmezustand.

„Die Behörden wollen mit allen Mitteln kontrollieren, welche Informationen über die Proteste nach außen dringen“, sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. „Die Unruhen dürfen nicht als Vorwand dienen, die Medien zu zensieren. Wir fordern Präsident Kassym-Jomart Tokajew auf, den Zugang zum Internet und zu gesperrten Webseiten sofort wiederherzustellen und Medienschaffenden zu ermöglichen, frei und ohne Angst vor der Polizei über diese in ihrem Ausmaß bereits jetzt historische Protestbewegung zu berichten.“

Obwohl sie Pressewesten trugen, wurden mehrere Reporter festgenommen, als sie über Polizeigewalt gegen Demonstrierende berichten wollten. Einer von ihnen ist Darkhan Umirbekow, der für Radio Azattyq, den kasachischen Dienst des US-Medienunternehmens Radio Free Europe/Radio Liberty (RFE/RL), über die Proteste in der Hauptstadt Nur-Sultan berichtete. Er wurde am Abend des 4. Januar festgenommen und musste viereinhalb Stunden lang in Polizeigewahrsam verbringen. Die Polizei verbot dem Journalisten über zwei Stunden lang, seine Anwältin zu sehen, wie diese bei RFE/RL berichtete. Am gleichen Tag wurde Umirbekows Kollege Kassym Amanjol, Leiter des Regionalbüros von Radio Azattyq in der größten Stadt Almaty, gemeinsam mit mehreren Demonstrierenden festgenommen, obwohl er sich gegenüber der Polizei als Journalist ausgewiesen hatte.

Körperliche Angriffe und Einschüchterungen

Die Prostete waren zuerst in der Region Mangystau aufgeflammt, im Südwesten des Landes. Dort wurden zwei Reporter und eine Reporterin inhaftiert, als sie gefilmt hatten, wie eine Gruppe von Demonstrierenden festgenommen wurde. Daniyar Alimkoul, Korrespondent des TV-Senders Kanal 7, und Nourbolat Janabekouly Korrespondent von Kanal 31, wurden kurz darauf wieder freigelassen. Die dritte Festgenommene, die für die Zeitung Vremya tätige Reporterin Aijjan Aouelbekova, musste nach Angaben ihrer Kollegen weiter in Haft bleiben. In der Stadt Oral wurde der Chefredakteur der Wochenzeitung Uralskaja Nedelja, Lukpan Achmedjarow, mehrere Stunden lang wegen seiner angeblichen „Beteiligung an extremistischen Aktivitäten“ verhört.

Neben solchen willkürlichen Verhaftungen wurden Medienschaffende auch Opfer körperlicher Angriffe und Einschüchterungen. Am 5. Januar wurde der Journalist Leonid Rasskazov, der für die Nachrichtenseite Orda.kz über die Proteste in Almaty berichtete, von einem Gummigeschoss der Polizei in den Rücken getroffen; sein Kollege Bek Baitasov wurde von einem Splitter einer Gummigranate im Gesicht verletzt. Die Gewalt ging auch von Teilnehmenden an den Protesten aus: Demonstrierende versuchten, die Kamera eines Teams der Nachrichtenagentur KazTag zu entwenden. Einer von ihnen verfolgte das Team und drohte, einen Pflasterstein zu werfen.

Internetzugang mehrfach großflächig blockiert

Parallel dazu übernahmen die Behörden die Kontrolle über die digitale Sphäre, den einzigen verbliebenen Raum, in dem Informationen frei verbreitet werden und zugänglich sind. Am Nachmittag des 4. Januar sperrte das Innenministerium die Webseiten von Orda.kz und KazTag, nachdem dort Artikel über Polizeigewalt erschienen waren. Am frühen Abend des gleichen Tages wurden Messengerdienste wie WhatsApp, Telegram und Signal eingestellt. Gegen 13 Uhr am Folgetag (5.1.) wurde das Internet im ganzen Land vollständig abgeschaltet, sodass selbst über VPN und andere Systeme keine Verbindungen mehr möglich war. Am Abend war der Zugriff auf das Internet vorübergehend wieder möglich – anlässlich der Fernsehansprache von Präsident Tokajew.

Präsident Tokajew hat seine Regierung entlassen und Russland und seine Verbündeten im Rahmen der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) um Militärhilfe gebeten. Am 6. Januar ist ein erstes Kontingent sogenannter „Friedenskräfte“ in Kasachstan eingetroffen. Bei den Zusammenstößen der vergangenen Tage zwischen Polizei und Demonstrierenden gab es bereits Dutzende Tote und über tausend Verletzte. Die genauen Zahlen sind derzeit schwer zu bestimmen.

Auch nach Nasarbajew kontrolliert der Staat die Medien

Als Nursultan Nasarbajew im März 2019 nach drei Jahrzehnten als Präsident zurückgetreten ist, schienen die folgenden Präsidentschaftswahlen einen Übergang hin zu mehr Meinungsfreiheit zu signalisieren: Die Zivilgesellschaft organisierte beispiellose Proteste, Online-Nachrichtenseiten verbesserten sich qualitativ und fanden ein immer größeres Publikum. Gleichzeitig modernisiert der Staat jedoch seine Methoden der Repression und der Kontrolle. Insbesondere im digitalen Raum ist staatliche Überwachung weit verbreitet. In der Vergangenheit sind Blogger und Bürgerjournalistinnen verhaftet worden oder in psychiatrische Kliniken eingewiesen worden. Als Erbe der Nasarbajew-Jahrzehnte zensieren sich viele Medienschaffende selbst.

Auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen steht Kasachstan auf Platz 155 von 180 Staaten.



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