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Russland

Rangliste der Pressefreiheit — Platz 164 von 180
Russland 02.03.2020

IT-Unternehmen müssen Druck widerstehen

Putin auf einem Smartphone
© picture alliance / AP Photo

Reporter ohne Grenzen (RSF) ist besorgt über die jüngsten Versuche der russischen Staatsführung, die Informationsverbreitung im Internet weiter unter ihre Kontrolle zu bringen. In den vergangenen Wochen wurden mindestens vier Anbieter verschlüsselter E-Mail-Dienste gesperrt; Facebook und Twitter wurden zu Geldstrafen in erheblicher Höhe verurteilt. Alexej Soldatow, einer der Gründerväter des russischen Internets, geriet ebenso unter Druck wie die Programmierer des weltweit genutzten Webservers NGINX. Wie stark der Staat die Meinungsfreiheit online beschränkt, zeigt ein Bericht der russischen Menschenrechtsorganisationen Agora und Roskomsvoboda. Er bestätigt die zentralen Thesen des RSF-Länderberichts „Alles unter Kontrolle? Internetzensur und Überwachung in Russland“, der Ende 2019 erschienen ist.

„In ihrem Bemühen, nicht nur Online-Inhalte, sondern auch die Infrastruktur des Internets zu kontrollieren, setzen russische Behörden IT-Unternehmen im In- und Ausland immer stärker unter Druck“, sagte der Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen, Christian Mihr. „Gerade internationale Plattformen müssen Zensurforderungen aus Russland klar zurückweisen und dürfen nicht mit Behörden zusammenarbeiten, die das Recht auf Presse- und Meinungsfreiheit missachten.“

Gewalt, Gefängnisstrafen, Internet-Shutdowns

Die russischen Menschenrechtsorganisationen Agora und Roskomsvoboda zählten 2019 fast 440.000 Fälle, in denen die Informationsfreiheit im Internet eingeschränkt wurde, zum überwiegenden Teil durch Inhaltsverbote und das Sperren von Seiten. Sie registrieren nach wie vor ein hohes Maß an Gewalt und Drohungen im Zusammenhang mit online veröffentlichten Informationen: In 36 von 57 Fällen waren die Opfer Medienschaffende. Während die strafrechtliche Verfolgung von Nutzerinnen und Nutzern 2019 zurück ging (200 Fälle im Vergleich zu 384 im Vorjahr), werden anhaltend viele Menschen zu Freiheitsstrafen verurteilt (2019: 38 Fälle, 2018: 45). Immer öfter werden Online-Aktivitäten als Ordnungswidrigkeiten geahndet, die hohe Bußgelder oder mehrere Tage oder Wochen Arrest zur Folge haben. Erstmals aufgeführt sind im Monitoring der beiden Organisationen zwei neue Kategorien: der steigende Druck auf IT-Unternehmen und das von den Behörden angeordnete zeitweise Abschalten des Internets (sog. Shutdown).  

Dem Bericht zufolge nutzt die russische Führung Internet-Shutdowns inzwischen systematisch, um den Informationsfluss in kritischen Situationen zu kontrollieren. So fiel das mobile Internet während der Proteste im Sommer 2019 in Moskau in einigen Stadtbezirken wiederholt aus. In der nordkaukasischen Teilrepublik Inguschetien wurde das mobile Internet im Herbst 2018 und Frühjahr 2019 bei Protesten mehrmals tagelang abgeschaltet. Die Mobilfunkanbieter erklärten nach Beschwerden von Nutzerinnen und Nutzern, sie hätten auf Anweisung der Behörden gehandelt. Im Zuge der Massenproteste gegen den Bau einer Mülldeponie in Schijes im nordrussischen Gebiet Archangelsk wurden im Sommer 2019 Berichten von Anwohnerinnen und Anwohnern zufolge in einem nahegelegenen Dorf zeitweise sowohl das Internet als auch die Elektrizität abgestellt. Bisher sind die Behörden auf die Mithilfe von Providern und Mobilfunkanbietern angewiesen, um solche Internetsperren durchzusetzen. Das Gesetz über ein eigenständiges russisches Internet vom Mai 2019 soll es ihnen ermöglichen, den Internetzugang der Bevölkerung in Zukunft zentral zu kontrollieren.

Strafen gegen Facebook und Twitter, E-Mail-Anbieter gesperrt

Mitte Februar verhängte ein Moskauer Gericht eine Strafe von jeweils vier Millionen Rubel (ca. 58.000 Euro) gegen Facebook und Twitter, weil die Unternehmen Daten russischer Nutzerinnen und Nutzer nicht auf Servern in Russland speichern. Dazu sind sie laut Gesetz eigentlich schon seit 2015 verpflichtet, doch erst im vergangenen Jahr stieg der Druck auf die beiden Plattformen deutlich: Im Juni 2019 wurden sie zunächst zu einer eher symbolischen Strafe von jeweils 3.000 Rubel (41 Euro) verurteilt. Im Dezember unterschrieb Präsident Putin ein Gesetz, das für Unternehmen, die persönliche Daten nicht in Russland speichern, Strafen von bis zu sechs Millionen Rubel vorsieht; im Wiederholungsfall drohen Bußgelder von bis zu 18 Millionen Rubel (ca. 260.000 Euro).

Im Bemühen, verschlüsselte Kommunikation zu verhindern, haben die Behörden seit Jahresbeginn den Zugang zu mehreren E-Mail-Anbietern blockiert. Ende Januar traf dies den niederländischen Dienst Startmail und das Schweizer Unternehmen Protonmail. Russische Behörden begründeten die Sperren mit gefälschten Bombendrohungen, die über die Dienste versandt worden seien und mit der fehlenden Kooperation der Unternehmen. Seit Mitte Februar wird auch der in Hannover ansässige Anbieter Tutanota blockiert, der ebenfalls ende-zu-ende-verschlüsselten E-Mail-Verkehr ermöglicht. Den Antrag auf Sperrung des Berliner Anbieters Mailbox.org hingegen zog die russische Medienaufsicht Anfang Februar zurück: Mailbox.org hatte sich in das Register für „Organisatoren von Informationsverbreitung“ eintragen lassen, gleichzeitig aber betont, Daten seiner Nutzerinnen und Nutzer prinzipiell nicht in Russland zu speichern. Die gesperrten E-Maildienste sind in Russland jedoch weiterhin zum Beispiel über das TOR-Netzwerk zu erreichen. 2019 nutzten dies in Russland rund 350.000 Menschen am Tag – die zweithöchste Zahl weltweit hinter den USA.

Druck auf IT-Spezialisten und Unternehmer

Am 12. Dezember durchsuchte die Polizei das Moskauer Büro von NGINX (ausgesprochen: Engine X), einem der weltweit meistgenutzten Webserver und verhörte deren Firmengründer Igor Sysojew und Maxim Konowalow. Der russische Suchmaschinenanbieter Rambler.ru hatte die beiden NGINX-Entwickler kurz zuvor wegen angeblicher Urheberrechtsverletzungen verklagt, die mehr als 15 Jahre zurückliegen, und Ansprüche am Quellcode der frei nutzbaren Software angemeldet: Die ehemaligen Rambler-Mitarbeiter Sysojew und Konowalow hatten NGINX in den Nullerjahren in ihrer Freizeit entwickelt, die Software 2004 unter Open-Source-Lizenz veröffentlicht und 2011 eine gleichnamige Firma mit Sitz in den USA gegründet. Gegen die kurzzeitige Festnahme der beiden protestierten namhafte internationale IT-Unternehmen und Rambler zog die Klage gegen NGINX wenige Tage später zurück.

Mitte Dezember wurde zudem der renommierte Wissenschaftler Alexej Soldatow unter Hausarrest gestellt, einer der Mitbegründer des russischen Internets und Vater des auf Überwachung spezialisierten Journalisten Andrej Soldatow. Gegen ihn und zwei seiner Geschäftspartner läuft ein Strafverfahren wegen Betrugs in besonderem Ausmaß. Berichten russischer Medien zufolge wurde die Justiz auf Betreiben des Kreml hin aktiv; im Kern gehe es um die Top-Level-Domain .su, die seit ihrer Registierung in den 90er Jahren von verschiedenen Institutionen unter Soldatow verwaltet wurde. Sie gehört laut dem Gesetz über ein eigenständiges russisches Internet vom März 2019 zur „nationalen Domain-Zone“, die der Staat mit dem Ziel der „Souveränisierung“ des Internets vollständig unter seine Kontrolle bringen will.

Weniger Strafverfahren, mehr Geldbußen

Einzelne Nutzerinnen und Nutzer werden inzwischen eher zivil- als strafrechtlich verfolgt. Der umstrittene Strafrechtsartikel 282 über das Schüren von Hass und extremistische Tätigkeit, der 2017 und 2018 massenhaft benutzt wurde, um kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen, wurde 2019 kaum noch angewendet (27 Fälle in der 1. Jahreshälfte 2019 gegenüber 519 Fällen 2018). Einer der wenigen, die dies traf, war Wladislaw Sinitsa. Er wurde Anfang September wegen eines Tweets, der angeblich zu Gewalt gegen die Familien von Sicherheitskräften aufrief, zu fünf Jahren Straflager verurteilt. Parallel dazu verhängten die Gerichte in jüngster Zeit häufiger Nutzungsverbote: Der Student Jegor Schukow, der in seinem Blog zu gewaltfreiem Widerstand gegen die Regierung aufgerufen hatte, wurde Anfang Dezember zu drei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt und darf zwei Jahre lang keine eigene Internetseite betreiben. Im Sommer wurde Roman Udot, einer der führenden Köpfe der Bürgerrechtsbewegung Golos nur unter der Bedingung in den Hausarrest entlassen, dass er das Internet nicht mehr nutzt.

Die angebliche Verbreitung extremistischen Materials wurde 2019 häufig als Ordnungswidrigkeit geahndet, vor allem nach dem neuen Artikel 20.3.1. über das Schüren von Feindschaft und Ehrverletzung, der Anfang 2019 in Kraft trat. Allein im ersten Halbjahr 2019 wurden 158 Menschen nach diesem Artikel verurteilt, die meisten von ihnen zu Geldstrafen (138 Fälle). Solche Verfahren folgen im Vergleich zu Strafprozessen vereinfachten Regeln und sind deutlich kürzer, Verjährungsfristen sind oft unklar. Im westsibirischen Tjumen wurde im November 2019 der Blogger Alexej Kungurow nach Artikel 20.3.1 zu 15 Tagen Arrest verurteilt, weil er einen satirischen Beitrag über den Charakter des russischen Volkes veröffentlicht hatte.

„Respektlose“ Äußerungen über Präsident Putin verboten

Häufig angewendet wurde auch der maßgeblich von Wladimir Putin vorangetriebene neue Tatbestand von „Respektlosigkeit“ gegenüber dem Staat und seinen Organen (Art. 20.1.3 des Gesetzbuchs über Ordnungswidrigkeiten). Er wurde erst im März 2019 neu eingeführt, bis zum Jahresende zählten die Organisationen Agora und Roskomsvoboda bereits 78 dementsprechende Urteile – sie beschäftigten sich größtenteils (44 Fälle) mit „respektlosen“ Äußerungen über Präsident Putin. Die Journalistin Irina Slawina aus Nischni Nowgorod wurde im Oktober zur Zahlung eines Bußgelds von 70.000 Rubel (fast 1.000 Euro) verurteilt, weil sie sich spöttisch über einen Ort geäußert hatte, in dem eine neue Gedenktafel an den sowjetischen Diktator Josef Stalin erinnert.

Auf der weltweiten Rangliste der Pressefreiheit steht Russland auf Rang 149 von 180 Staaten.

Den RSF-Länderbericht „Alles unter Kontrolle? Internetzensur und Überwachung in Russland“ finden Sie hier (sowie in Englisch und in Teilen Russisch)

Der aktuelle Bericht von Agora und Roskomsvoboda ist im Februar auf Englisch und Russisch erschienen.



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