Meldungen aus den Projektländern des Defending Voices Program

Brasilien/RSF-Programm PAJor 14.07.2020

Verlässliche Informationen in der Corona-Krise

© Raquel UendiI / SA

Die Menschen in den Favelas und im Amazonasgebiet sind von der Corona-Krise in Brasilien in besonderem Maße betroffen, ihre Probleme aber wurden von den traditionellen Medien in Brasilien vor allem anfangs weitgehend ignoriert. Acht selbstverwaltete Community-Medien, die am Projekt PAJor von Reporter ohne Grenzen (RSF) teilnehmen, versuchen diese Informationslücken zu schließen, indem sie ihre Gemeinschaften mit unabhängigen, verlässlichen Informationen versorgen und die großen Medien auf die herrschenden Missstände aufmerksam machen. Die Medien Amazônia Real, Rede Wayuri, Ação Comunitária Caranguejo Uçá, Marco Zero Conteúdo, Data_labe, Fala Roça, Alma Preta und Nós, mulheres da periferia haben ihre Berichterstattung und ihre sozialen Aktivitäten deshalb seit Beginn der Krise deutlich ausgebaut.

Nur eine Minderheit der brasilianischen Bevölkerung hat die Möglichkeit, sich effektiv gegen das Coronavirus zu schützen. Der Alltag eines Großteils der Bevölkerung während der Pandemie ist geprägt von Arbeitslosigkeit, vom Mangel an klaren und zuverlässigen Informationen und von fehlendem Zugang zu lebenswichtigen Gütern wie Wasser, wie etwa ein Bericht von Marco Zero Conteúdo betont. Nós, mulheres da periferia ließ eine Bewohnerin von Mauá, einer Stadt im Großraum São Paulo, zu Wort kommen, die zuvor in einem Instagram-Video die Frage gestellt hatte: „Wie können wir eine solche Krankheit verhindern, wenn wir nicht einmal Wasser zum Trinken haben, geschweige denn zum Händewaschen?“ Laut einer Erhebung der Nachrichtenagentur Alma Preta verfügen 35 Millionen Brasilianerinnen und Brasilianer nicht über sauberes fließendes Wasser.

Am 16. März, drei Tage nach dem ersten offiziellen Bericht über einen Covid-19-Todesfall in Brasilien, machten die unabhängigen Medien gemeinsam mit zahlreichen weiteren Akteuren aus den Randgebieten der größten brasilianischen Städte in einem offenen Brief unter dem Hashtag #CoronaNasPeriferias auf die ungleichen Auswirkungen der Krise aufmerksam: „Die Regierung und mehrere Organisationen empfehlen soziale Isolation als Hauptmittel zur Prävention der Krankheit. Das ist in unserer Realität nicht möglich! (...) Wir Medienaktivisten aus den Randgebieten der Städte, aus verschiedenen Teilen des Landes, schließen uns zusammen, um gemeinsam korrekte Informationen zu verbreiten, die unsere Mitmenschen wirklich erreichen. Wir müssen wissen, wie wir unsere Kinder, unsere Jugendlichen, unsere Alten, unsere Väter, Mütter und Familienmitglieder informieren können. Von uns, für uns.“

Aufklärung und konkrete Hilfe für Favela-Bewohner

Unter demselben Hashtag begannen danach hunderte von Journalistinnen und Journalisten, Aktivistinnen und Aktivisten damit, auf die Lücken hinzuweisen, die das Krisenmanagement der Kommunal- und Regionalregierungen sowie der Bundesregierung hinterlässt. Die Teams des Netzwerks arbeiten trotz knapper Ressourcen hart daran, den Zugang zu verständlichen und zuverlässigen Informationen für ihre Communitys zu verbessern. Die Zeitung Fala Roça zum Beispiel begann, eine eigene Zählung der Coronavirus-Fälle in Rocinha vorzunehmen, einer Favela in Rio de Janeiro, die als die größte in Brasilien bekannt ist. Data_labe machte auf das Problem aufmerksam, dass viele Schülerinnen, Schüler und Studierende in den Favelas keine Möglichkeit haben, ihre Ausbildung von zu Hause fortzuführen, da sie dort weder WLAN noch Computer haben. So trieb das Netzwerk die öffentliche Diskussion darüber mit an, ob die nationale Schulabschlussprüfung, die Zugang zu den wichtigsten öffentlichen brasilianischen Universitäten gewährt, verschoben werden soll.

Zudem engagieren sich die Organisationen in konkreter Hilfsarbeit. Als sich etwa abzeichnete, dass die Corona-Krise zu Lebensmittelknappheit führen würde, organisierten Gruppen wie Ação Comunitária Caranguejo Uçá mit Hilfe von Spenden Tausende von Essenspaketen, um eine Mindestversorgung zu garantieren. Neben der Bereitstellung von Nahrungsmitteln, Hygiene-Kits und Gesichtsmasken stellte das Netzwerk auch virtuelle Karten zur Verfügung, um der Bevölkerung bei der Suche nach lokalen Hilfsangeboten zu helfen. 

Berichterstattung in den Sprachen der indigenen Bevölkerung 

Die journalistische Berichterstattung über den Norden des Landes auszubauen hat sich Amazônia Real zur Aufgabe gemacht – in Zeiten der Pandemie eine besonders große Herausforderung. Das Medium hat wiederholt den Mangel an Intensivbetten und Pflegeeinrichtungen in der Amazonasregion angeprangert, die als erste im Land den Zusammenbruch des lokalen Gesundheitssystems erlebte. 

Die Berichte der Agentur enthüllen die Schwierigkeiten, mit denen die indigenen Volksgruppen konfrontiert sind, um sich gegen das Coronavirus zu schützen, und dienen zugleich als Sprachrohr in Richtung der Politik. „Für mich unterscheidet sich Covid-19 nicht von Pocken, Masern, Grippe und Mumps, an denen viele meiner Brüder starben. Wir wollen keinen weiteren Völkermord“, sagte etwa Crisanto Rudzö Tseremey'wá von der Volksgruppe der Xavante. Solche Aussagen finden in den traditionellen Medien, die indigene Stimmen nur selten berücksichtigen, kaum Platz.

Rede Wayuri wiederum erfüllt ein anderes, ebenfalls von den traditionellen Medien meist vernachlässigtes Grundbedürfnis: Berichterstattung in den Muttersprachen der indigenen Bevölkerung. Rede Wayuri ist in der Region São Gabriel da Cachoeira tätig, 850 Kilometer entfernt von Manaus, der Hauptstadt des Bundesstaates Amazonas. Die Bootsfahrt dorthin über den Rio Negro kann bis zu vier Tage dauern. Um die 750 Gemeinden in der Region über die Risiken des Coronavirus und über Möglichkeiten zur Prävention aufzuklären, produzieren die Mitglieder von Rede Wayuri Audiobulletins, die über das Radio, das Internet und sogar über mit Lautsprechern bestückte Autos verbreitet werden.

Über das PAJor-Projekt

Das RSF-Projekt PAJor bringt acht unabhängige brasilianische Medien zusammen: Amazônia Real und Rede Wayuri aus dem Bundesstaat Amazonas, Ação Comunitária Caranguejo Uçá und Marco Zero Conteúdo aus dem Bundesstaat Pernambuco, Data_labe und Fala Roça aus Rio de Janeiro sowie Alma Preta und Nós, mulheres da periferia aus São Paulo. Das im Februar 2020 gestartete Projekt hat eine Laufzeit von drei Jahren und verfolgt das Ziel, zur institutionellen Stärkung dieser Medien beizutragen. PAJor unterstützt jedes der Medien bei der Entwicklung von digitalen und Offline-Sicherheitsprotokollen. Es werden individuelle Workshops zu institutioneller Entwicklung und finanzieller Nachhaltigkeit abgehalten, zudem Vorträge und Konferenzen zum Thema Meinungsfreiheit. Das Programm soll zudem den Austausch zwischen den teilnehmenden Medien fördern und die Produktion von gemeinsamer Berichterstattung unterstützen.

PAJor ist Teil von Defending Voices, einer internationalen Initiative von Reporter ohne Grenzen Deutschland (RSF), die vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) finanziert wird. Zu Defending Voices gehört auch ein von der Menschenrechts-NGO Propuesta Cívica organisiertes Projekt in Mexiko. Das Projekt „Press in Resistance“ setzt sich für die Abkehr von Praktiken und Gesetzen ein, die der Pressefreiheit in Mexiko schaden, sowie für Gerechtigkeit für Journalistinnen und Journalisten, die Opfer von Menschenrechtsverletzungen wurden, und deren Angehörige.



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