Deutschland 12.05.2020

Angriffe gegen Journalisten

Die Ausrüstung eines Kamerateams liegt nach dem Übergriff auf dem Boden ©picture alliance/Christoph Soeder/dpa

Reporter ohne Grenzen (RSF) ist äußerst besorgt über die wiederholten Angriffe auf die Pressefreiheit in Deutschland in den vergangenen Wochen. Mehrmals wurden Journalistinnen und Journalisten unter anderem am Rande von Protesten gegen Corona-Maßnahmen und Versammlungen zum 1. Mai attackiert. In sozialen Medien berichteten Medienschaffende von Drohungen und Einschränkungen bei der Arbeit. Mehrere Redaktionen haben laut einem Zeitungsbericht Morddrohungen erhalten.

„Wer Journalistinnen und Journalisten angreift, greift das Grundrecht auf Pressefreiheit an. Gerade in Zeiten einer Pandemie müssen Medienschaffende frei und ohne Angst vor Gewalt berichten können, um die Bevölkerung zu informieren und eine freie Meinungsbildung zu ermöglichen“, sagte Christian Mihr, Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen. „Wir befürchten, dass die jüngsten Angriffe Medienschaffende verunsichern und diese im Zweifel weniger von Kundgebungen berichten.“

Der jüngste Übergriff ereignete sich am Samstag in Dortmund. Dort drehten zwei WDR-Journalisten auf einer Demonstration gegen Corona-Einschränkungen. Nach Angaben des Senders versuchte ein mutmaßlicher Rechtsextremer, einem der beiden Medienschaffenden die Kamera aus der Hand zu schlagen. Dabei wurde ein WDR-Journalist leicht am Kopf verletzt. Die Betroffenen haben Anzeige erstattet.

Mitte vergangener Woche wurde bei einer Demonstration gegen Corona-Beschränkungen vor dem Reichstagsgebäude in Berlin ein ARD-Kamerateam angegriffen. Laut Berliner Polizei soll ein Mann versucht haben, den Ton-Assistenten zu treten. Er traf demnach offenbar die Mikrofon-Angel, die gegen den Kopf des Kameramanns schlug. Gegen den 46-jährigen mutmaßlichen Täter wird nun wegen Verdacht auf Körperverletzung ermittelt.

Brutaler Angriff auf ZDF-Kamerateam

Fünf Tage zuvor war bereits ein Kamerateam des ZDF in Berlin während einer Drehpause von einer Gruppe vermummter Personen brutal angegriffen worden. Das TV-Team hatte in Begleitung von drei Sicherheitsmitarbeitern für die Satire-Sendung „Heute Show“ bei der sogenannten „Hygiene-Demo“ am Rosa-Luxemburg-Platz gefilmt. Laut Berliner Polizei sollen die Betroffenen auch mit einer Metallstange geschlagen und getreten worden sein. Einer von ihnen verlor bei dem Angriff das Bewusstsein, mehrere Medienschaffende mussten im Krankenhaus behandelt werden.

Der Staatsschutz ermittelt nun wegen des Verdachts der gefährlichen Körperverletzung gegen eine Gruppe von etwa 15 Personen. Mitglieder dieser Gruppe stehen nach Angaben von Polizei und Staatsanwaltschaft Berlin im Verdacht, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des ZDF „gezielt“ angegriffen zu haben. Einige Verdächtige seien demnach teilweise der linken Szene zuzurechnen. Die Aufklärung der Tat sei „aufwändig und schwierig“, auch weil die bisherigen Zeugenaussagen nicht in allen Details ein einheitliches Bild ergäben. In einem nur einen Tag vor dem Angriff auf der verschwörungstheoretischen Seite KenFM veröffentlichten Beitrag kündigte ein Autor offenbar den Besuch des ZDF-Kamerateams an.

Reporter ohne Grenzen ist besorgt, dass die Übergriffe andere Medienschaffende einschüchtern könnten. Einen Tag nach dem Vorfall schrieb ein Journalist der deutschen Ausgabe des Vice-Magazins auf Twitter, dass sie für den Tag einen Bericht über die Hygiene-Demo in Berlin geplant, nach dem Angriff auf das ZDF-Team aber davon abgesehen hätten, dort zu filmen. „Das Risiko schien uns zu hoch.“

Gewalt gegen Journalisten bei Demos zum 1. Mai

Auch am Rande von Versammlungen zum Tag der Arbeit am 1. Mai kam es zu Gewalt gegen Medienschaffende. Wie die Berliner Polizei mitteilte, soll eine Journalistin in Kreuzberg durch einen Polizisten mit einem Faustschlag im Gesicht verletzt worden sein. Es werde nun wegen Körperverletzung im Amt ermittelt. Dem Tagesspiegel und der taz erzählte die 22-Jährige, die für eine Nachrichtenagentur für Fernsehbilder arbeitet, dass der Schlag aus ihrer Sicht „gezielt“ gewesen sei. Zudem soll sie unter anderem mit einer Mikrofonangel ausgestattet und damit klar als Teil des Filmteams erkennbar gewesen sein.

Bei einer Versammlung am 1. Mai in Hamburg wurde ein Kameramann der Foto- und Videoagentur Blaulicht News mit einer Flasche beworfen und am Kopf verletzt. Die mutmaßliche Täterin konnte zunächst fliehen, wurde aber wegen gefährlicher Körperverletzung angezeigt.

In einer jüngst veröffentlichten Studie gaben rund 60 Prozent der 322 befragten Journalistinnen und Journalisten an, in den vergangenen zwölf Monaten mindestens einmal angegriffen worden zu sein. Unter Angriffen versteht die Studie alle Arten von hasserfüllten Reaktionen, die Medienschaffende in ihrem Berufsalltag erleben – von Beleidigungen über Anfeindungen bis hin zu Aufrufen zu Gewalt oder Straftaten. Die Studie „Hass und Angriffe auf Medienschaffende“ wurde vom Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld in Zusammenarbeit mit dem Mediendienst Integration erstellt. Sie ist nach eigenen Angaben nicht repräsentativ für alle Medienschaffende in Deutschland, erlaube aber ausführliche Einblick in ihren Arbeitsalltag.

Die jüngsten Angriffe werden auch in die von RSF ermittelte Statistik zu Übergriffen gegen Medienschaffende in Deutschland einfließen, die RSF jedes Jahr veröffentlicht. Im vergangenen Jahr ist die Zahl mit mindestens 13 tätlichen Angriffen im Vergleich zum Vorjahr (22) deutlich gesunken – vor allem deshalb, weil es 2019 keine rechtspopulistischen Proteste von vergleichbarer Dimension wie im Spätsommer 2018 in Chemnitz und Köthen gab. Nachdem RSF im Jahr 2015 noch 39 Übergriffe gezählt hatte, war die Zahl 2016 und 2017 auf unter 20 zurückgegangen. Dass die Zahl gesunken war, lag vor allem daran, dass weniger Demonstrationen und Protestkundgebungen stattfanden, bei denen Journalistinnen und Journalisten pauschal als Vertreter der „Lügenpresse“ verunglimpft und zur Zielscheibe von Aggressionen und Gewalt wurden.

Journalisten bedroht und in ihrer Arbeit eingeschränkt

Neben tätlichen Angriffen gegen Medienschaffende wurden Journalistinnen und Journalisten in den vergangenen Wochen offenbar bedroht und in ihrer Arbeit eingeschränkt. Vergangene Woche berichtete das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND), dass der Staatsschutz wegen rechtsextremer Drohbriefe ermittelt. Die Morddrohungen richten sich demnach gegen Journalistinnen und Journalisten, Politiker und Staatsanwältinnen. Die wortgleichen Schreiben wurden laut RND Ende April unter anderem an neun Redaktionen geschickt, tragen als Absender das in der Vergangenheit durch ähnliche Morddrohungen aufgefallene sogenannte Staatsstreichorchester und sind mit „Sieg Heil“ und „Heil Hitler“ unterschrieben. Laut dem Bericht steht in den Drohbriefen auch, man habe ausreichend Munition, um jeden der Adressaten zu liquidieren.

Anfang April beklagte die freie Journalistin Lotte Laloire, sie sei beim Dokumentieren eines Polizeieinsatzes auf einer nicht erlaubten Demo des Bündnisses „Seebrücke“ in Frankfurt am Main an der Arbeit gehindert, von der Polizei brutal abgeführt und dabei verletzt worden. Auf Twitter dokumentierte sie ihre Verletzungen am Arm. Die Polizei Frankfurt wirft ihr laut Medienberichten vor, eine Polizeiabsperrung missachtet zu haben. Auf Twitter schreibt die Journalistin zudem, dass weitere vor Ort berichtende Medienschaffende von der Polizei in ihrer Arbeit eingeschränkt worden seien.

Am gleichen Tag organisierten Aktivistinnen und Aktivisten vor dem Brandenburger Tor in Berlin trotz Demonstrationsverbot eine Solidaritätsaktion für Flüchtlinge. Laut einem taz-Bericht nahm die Polizei die Daten einiger anwesender Fotografinnen und Fotografen auf. Bei mindestens einem soll sich ein Beamter kurz darauf entschuldigt haben.

In München hatten Anfang Mai mehrere Menschen gegen die Corona-Regelungen protestiert. Auf Twitter schrieb eine Fotojournalistin, sie und ein Kollege seien bei einer Kundgebung von zwei Männern bedrängt und beleidigt worden. Auch in Leipzig gingen Demonstrantinnen und Demonstranten gegen Corona-Schutzmaßnahmen auf die Straße. Der freie Journalist Henrik Merker berichtete vergangene Woche auf Twitter, in einer lokalen Chat-Gruppe von Organisatoren und Teilnehmerinnen seien Fotos von ihm verbreitet worden. Zuvor sei bereits ein Demonstrant mit den Worten auf ihn zugegangen, er habe Bilder von ihm.

Corona-Krise und die Pressefreiheit in Deutschland

Die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie verändern die Bedingungen journalistischer Arbeit auch in Deutschland drastisch. Kontaktverbote und faktische Ausgangssperren erschweren Interviews, Recherchen und Drehs vor Ort. Viele Pressekonferenzen finden nur noch virtuell statt. Forderungen nach der Nutzung von Handy-Ortungsdaten wecken Sorgen vor neuen Formen der Datensammlung und Überwachung, die den journalistischen Quellenschutz gefährden könnten. Hinzu kommt, dass Bund, Länder und Kommunen mit immer neuen Corona-Notverordnungen eine Vielzahl an Regularien geschaffen haben. Reporter ohne Grenzen hat die relevanten Gesetze, Verordnungen und Verfügungen hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Pressefreiheit durchgesehen und das Ergebnis in einer laufend aktualisierten Tabelle zusammengestellt.

Einen ausführlichen Bericht zur Lage der Journalistinnen und Journalisten vor Ort hat Reporter ohne Grenzen Ende April veröffentlicht. In der „Nahaufnahme Deutschland“ dokumentiert die Organisation detailliert strukturelle Mängel, die für die Presse- und Informationsfreiheit im Land bedrohlich sind, aber auch positive Entwicklungen. Erfreulich ist etwa, dass unter anderem die Polizei in Sachsen und anderen Bundesländern 2019 in eine transparente Fehleranalyse eingestiegen ist und das Thema Rechte von Medien und Freiheit der Berichterstattung verstärkt in der Aus- und Fortbildungsarbeit thematisiert.

Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht Deutschland auf Platz 11 von 180 Staaten.



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