Russland 16.08.2019

Freie Berichterstattung über Proteste zulassen

Demonstration in Moskau gegen Polizeigewalt und für freie Wahlen ©picture alliance/Ulf Mauder/dpa

Vor den morgen erwarteten neuen Protesten in Moskau und anderen Städten fordert Reporter ohne Grenzen (ROG) die russischen Behörden auf, eine freie Berichterstattung über die Ereignisse zuzulassen. In den vergangenen Wochen wurden Dutzende Journalistinnen und Journalisten festgenommen, die über die Proteste berichtet hatten. Daneben versuchen die Behörden mit Razzien und Drohungen gegen unabhängige Medien vorzugehen und Berichte über die Massenproteste im Internet zu unterdrücken. Vor den jüngsten Protesten wurden zudem private Daten unter anderem von Medienschaffenden in Umlauf gebracht, die die Betroffenen unabsehbaren Risiken aussetzen.

„Was die russische Führung nicht durch die Selbstzensur in den Staatsmedien verschweigen kann, versucht sie nun durch Druck auf all jene zu verschleiern, die ihre journalistische Aufgabe ernstnehmen und über diese wichtigen Ereignisse berichten“, sagte ROG-Geschäftsführer Christian Mihr. „Die russischen Behörden müssen Journalistinnen und Journalisten endlich ungehindert über die Proteste berichten lassen. Die Einschüchterungsversuche gegen unabhängige Medien wie TV Doschd müssen aufhören. Außerdem muss umfassend aufgeklärt werden, wie es zur Veröffentlichung privater Daten von Journalistinnen und Journalisten kommen konnte.“

Viele Journalistinnen und Journalisten festgenommen

Während der Proteste am vergangenen Samstag (10.8.) hielt die Polizei laut der Gewerkschaft der Journalisten und Medienschaffenden die bekannte Antikorruptionsaktivistin und Nawalny-Vertraute Ljubow Sobol rund zwei Stunden lang in ihrem Büro fest – und mit ihr die dort anwesenden Journalisten Alexej Korostelew (TV Doschd), Timur Olewsky und Sergej Korsakow (Nastojascheje Wremja / CurrentTimeTV) sowie die Journalistin Anastasia Olschanskaja (MBCh-Media). In dieser Zeit durften sie keinen Kontakt zu einem Anwalt aufnehmen und mussten ihre Mobiltelefone abgeben. Außerdem hielt die Polizei in Moskau und St. Petersburg weitere Journalistinnen und Journalisten kurzzeitig fest, unter anderem von den Zeitungen Nowaja Gaseta und Kommersant und den Nachrichtenportalen Mediazona und The Bell.

Bei den Protesten am 3. August waren nach Angaben des Russischen Journalistenverbands mindestens neun Journalistinnen und Journalisten festgenommen worden – viele davon, obwohl sie sich als Medienvertreter ausgewiesen hatten. Auch die Korrespondentin des Schweizer Fernsehens SRF, Luzia Tschirky, wurde nach eigenen Angaben kurzzeitig in einem Polizeitransporter festgesetzt.

Bei den Protesten in Moskau am 27. Juli zählte die Gewerkschaft der Journalisten und Medienschaffenden 24 Festnahmen von Journalistinnen und Journalisten sowie mindestens neun Fälle von Polizeigewalt gegen Medienschaffende. Unter den Festgenommenen waren Journalistinnen und Journalisten der Deutschen Welle, der Nachrichtenagenturen Associated Press und Reuters, des US-Senders Radio Free Europe / Radio Liberty sowie der Zeitungen Komsomolskaja Prawda und RBK. Mehreren Reporterinnen und Reportern wurde ins Gesicht geschlagen, einem Fotografen die Nase gebrochen. Eine Mitarbeiterin und ein Mitarbeiter von Nawalny Live, dem YouTube-Kanal des Antikorruptionsaktivisten und Oppositionspolitikers Alexej Nawalny, wurden zunächst in ihrem Studio und danach sechs Stunden lang auf einer Polizeiwache festgehalten

Razzia im Youtube-Studio, Mitarbeitende stundenlang festgehalten

Die staatlichen Fernsehsender berichteten anfangs gar nicht und dann nur grob verzerrend über die Proteste. Umso wichtiger für die Information der russischen Öffentlichkeit über die Ereignisse sind Internetsender und Kanäle in sozialen Medien. Auf dem YouTube-Kanal Nawalny Live zum Beispiel verfolgten am 27. Juli 1,3 Millionen und am 3. August 900.000 Menschen die Live-Übertragungen von den Protesten.

Am vergangenen Samstag (10.8.) jedoch konnte der YouTube-Kanal seine geplante Übertragung erst gar nicht beginnen, weil kurz davor die Polizei im Studio auftauchte und die Räume durchsuchte. Die Ermittlerinnen und Ermittler beschlagnahmte zahlreiche Ausrüstungsgegenstände einschließlich Teilen der Sendetechnik; die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mussten währenddessen stundenlang auf dem Boden liegen. Zwei Wochen zuvor war die Polizei schon einmal während der Übertragung von Protesten in das Studio gekommen und hatte die laufende Live-Berichterstattung unterbrochen.

Schikanen gegen unabhängigen Fernsehsender

Auch der kremlkritische Sender TV Doschd hat von Anfang an umfangreich über die Proteste berichtet. Während eines Live-Berichts von der Demonstration in Moskau am 27. Juli drangen Polizisten in die Redaktionsräume ein und zwangen den Sender, seine Berichterstattung zu unterbrechen. Offiziell diente die Aktion dazu, Chefredakteurin Alexandra Perepelowa die Vorladung zu einer Zeugenaussage im Zuge von Strafermittlungen zu den Protesten zu übergeben.

Fünf Tage später wurde der Sender über eine überraschende Steuerprüfung informiert. TV Doschd ist nur noch über das Internet zu empfangen, seit die führenden Kabel- und Satellitenbetreiber Anfang 2014 wegen einer umstrittenen Umfrage ihre Verträge mit dem Sender gekündigte hatten.

Der Deutschen Welle hat das russische Außenministerium vorgeworfen, sie habe durch ihre Berichterstattung zu Protesten aufgerufen. Ein Mitarbeiter des deutschen Auslandssenders habe selbst aktiv an den Protesten teilgenommen. Russland behalte sich vor, den Sender im Wiederholungsfall entsprechend den russischen Gesetzen zur Verantwortung zu ziehen. Am 27. Juli war der Deutsche-Welle-Korrespondent Sergej Dik kurzzeitig festgenommen worden, worauf der Sender mit einer Protestnote reagiert hatte.

Persönliche Daten geleakt - offenbar unter anderem aus Polizeilisten

Einen Tag vor den Protesten vom vergangenen Wochenende veröffentlichte ein anonymer Kanal in der Messenger-App Telegram eine Liste mit persönlichen Daten wie Telefonnummern und Ausweisnummern von mehr als 3000 vermeintlichen Unterstützerinnen und Unterstützern des Oppositionspolitikers und Antikorruptionsaktivisten Alexej Nawalny. Darunter waren auch die Daten von Journalistinnen und Journalisten des auf die Beobachtung von Justiz und Strafverfolgung fokussierten Medienprojekts Mediazona, des unabhängigen Online-Nachrichtenportals Meduza, des US-Auslandssenders Radio Swoboda und von TV Doschd.

Nach Meduza-Recherchen wurden die Daten aus unterschiedlichen Quellen zusammengestellt, darunter offenbar Polizeilisten der bei den Protesten am 27. Juli und 3. August Festgenommenen. Einige der auf den Listen Genannten berichteten, sie hätten seit dem Datenleak telefonische Drohungen erhalten.

Internet im Zentrum Moskaus gedrosselt, Druck auf Google

Während der Proteste der vergangenen Wochenenden berichteten Menschen in den zentralen Stadtteilen Moskaus wiederholt, vor allem das mobile Internet sei extrem langsam oder gar nicht verfügbar. Ein Experte der Nichtregierungsorganisation Gesellschaft zum Schutz des Internets sagte, am 3. August hätten zwei der vier größten Mobilfunkanbieter in Moskau die schnelle Datenübertragung abgeschaltet. Die Störungen hätten rund eine Stunde vor dem geplanten Beginn der Protestaktionen begonnen. Der russischsprachige Dienst der BBC zitierte aus einem Brief an ein Callcenter eines Mobilfunkanbieters, ein Teil der Basisstationen sei auf Anweisung der Behörden deaktiviert worden.

Vergangenen Sonntag (11. August) forderte die russische Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor die US-Internetplattform Google auf, auf den Seiten ihrer Tochter YouTube keine Videos ungenehmigter Proteste mehr zu verbreiten. Über das Videoportal würden Informationen über „gesetzeswidrige Massenveranstaltungen“ verbreitet. Sollte Google der Aufforderung nicht Folge leisten, werde man dies als Einmischung in Russlands innere Angelegenheiten und als „feindselige Beeinflussung“ demokratischer Wahlen betrachten und behalte sich eine angemessene Reaktion vor. Mehrere YouTube-Kanäle hatten die jüngsten Proteste live übertragen.

Anfang dieses Jahres war bekannt geworden, dass sich Google dem Druck der russischen Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor beugt und einen Teil der in Russland blockierten Inhalte dort nicht mehr als Suchergebnisse anzeigt. Anders als russische Provider ist Google zwar nicht mit dem „Register verbotener Internetseiten“ – der schwarzen Liste – der Behörde verbunden, sondern Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entscheiden von Fall zu Fall über die Löschungen. Rund 70 Prozent der von Roskomnadsor beanstandeten Inhalte soll Google jedoch aus den Suchergebnissen für russische Nutzerinnen und Nutzer entfernt haben.



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