Türkei 01.02.2017

Merkel muss öffentlich Stellung beziehen

Merkel und Erdogan vor dem G 20 Gipfel in China. ©dpa

Reporter ohne Grenzen fordert Bundeskanzlerin Angela Merkel auf, bei ihrer Reise in die Türkei am Donnerstag öffentlich Stellung zu beziehen und verfolgte Journalisten konkret beim Namen zu nennen. Merkel wird bei ihrem Besuch in Ankara den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan treffen, der nach dem Putschversuch im Juli den Ausnahmezustand ausgerufen hat. Sechs Monate später liegt die Pressefreiheit in der Türkei am Boden und der Medienpluralismus ist weitgehend zerstört. Knapp 150 Medien wurden geschlossen und 775 Presseausweise annulliert. Die Behörden haben mehr als 100 Journalisten ohne Prozess inhaftiert.

„Allgemeine Äußerungen über den dramatischen Verfall der Pressefreiheit in der Türkei reichen nicht aus. Die öffentliche Zurückhaltung der Bundesregierung sendet ein falsches Signal an die mutigen Journalisten, die unter  ständiger Angst im Land arbeiten – obwohl die Visavergabe für verfolgte Journalisten zuletzt flexibler gehandhabt wurde“, sagte ROG-Geschäftsführer Christian Mihr. „Bundeskanzlerin Merkel muss öffentlich die Freilassung der inhaftierten Journalisten fordern.“

Mehr als 80 Journalisten sitzen im Gefängnis, weil die Behörden ihre Medien als Unterstützer des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen betrachten. Der bekannte Investigativjournalist Ahmet Sik etwa wurde Ende Dezember festgenommen. Die Gülen-Vorwürfe gegen ihn sind absurd, denn 2011 und 2012 verbrachte er ein Jahr im Gefängnis, weil er den damaligen Einfluss der Bewegung des Predigers innerhalb des Staatsapparats kritisiert hatte.

Sik hat gelegentlich für die oppositionelle Tageszeitung Cumhuriyet geschrieben. Insgesamt sitzen 11 ihrer Mitarbeiter im Gefängnis. Zehn wurden Ende Oktober verhaftet, darunter Chefredakteur Murat Sabuncu, der Kolumnist Kadri Gürsel, der Karikaturist Musa Kart und Bülent Utku aus dem Vorstand der Cumhuriyet-Stiftung. Die Behörden werfen ihnen eine Gülen-freundliche redaktionelle Linie vor.

Vermögen von 54 Journalisten beschlagnahmt

Die Autorin Asli Erdogan saß bis Ende Dezember mehr als vier Monaten im Gefängnis. Sie war Mitglied im Beirat der mittlerweile geschlossenen prokurdischen Zeitung Özgür Gündem. Ihr wird unter anderem Propaganda für eine terroristische Vereinigung vorgeworfen. Ihr Prozess wird Mitte März fortgesetzt. Asli Erdogan ist chronisch krank und ist auf ärztliche Betreuung angewiesen. In einem Interview berichtet sie, dass sie in Haft einige Male in einem Gefängnistransporter und in Handschellen in ein Krankenhaus gebracht worden sei, dort jedoch nie einen Arzt gesehen habe.

Der Zaman-Kolumnist Sahin Alpay verbrachte seinen 73-jährigen Geburtstag in Haft. Er berichtete kürzlich, in sechs Monaten im Gefängnis sei er kein einziges Mal einem Staatsanwalt vorgeführt worden. Die Tageszeitung Zaman wurde Ende Juli zusammen mit rund 100 weiteren Medien per Dekret geschlossen.

Am 1. Dezember ordnete ein Gericht in Istanbul an, die Vermögen von 54 ehemaligen Beschäftigten der Zeitung zu beschlagnahmen, darunter Sahin Alpay, Mümtazer Türköne, Ali Bulac, Hilmi Yavuz, Ihsan Duran Dagi und Hamit Bilici.

Verfolgung bis ins Exil

Mitte Januar wurde der Menschenrechtsaktivist Sanar Yurdatapan und der Verleger Ibrahim Aydın Bodur wegen angeblicher Terrorpropaganda zu 15 Monaten Haft auf Bewährung und zu einer Geldstrafe von 6.000 Lira (1.500 Euro) verurteilt. Sie hatten sich an einer Solidaritätsaktion für die Zeitung Özgür Gündem beteiligt, die damals schon unter Druck der Behörden stand. Über 50 Journalisten und Intellektuelle hatten sich an der Aktion beteiligt, in dem sie für einen Tag symbolisch die Chefredaktion der Zeitung übernommen hatten. 36 von ihnen stehen vor Gericht. Darunter ist auch der langjährige Türkei-Korrespondent von Reporter ohne Grenzen, Erol Önderoglu. Sein Prozess geht am 21. März in Istanbul weiter.

Auch Journalisten und Medien im Exil sind nicht vor Verfolgung sicher. Dutzende Journalisten sind ins Ausland geflohen, darunter auch der ehemaliger Cumhuriyet Chefredakteur Can Dündar. Ihnen droht aufgrund eines neuen Dekrets von Anfang Januar der Entzug der Staatsbürgerschaft. Can Dündars Frau Dilek Dündar sitzt in der Türkei fest, nachdem die Behörden ihren Reisepass im August ohne Erklärung annulliert haben.

Can Dündar hat im Exil das deutsch-türkische Online-Medium Özgürüz gegründet. Ein Tag bevor die Berichterstattung beginnen sollte, wurde die Seite am 26. Januar in der Türkei gesperrt.

Reporter ohne Grenzen zählt Erdogan zu den größten Feinden der Pressefreiheit weltweit. Das von Erdogan angestrebte Präsidialsystem würde ihm deutlich mehr Macht verleihen. Ende März oder Anfang April soll die Bevölkerung in einem Referendum über die Einführung entscheiden. Im Januar hat es das Parlament bereits gebilligt.

Das Nothilfereferat von Reporter ohne Grenzen in Berlin steht derzeit mit rund 20 verfolgten türkischen Journalisten in Kontakt. Auf der Rangliste der Pressefreiheit stand die Türkei bereits vor dem Putschversuch auf Platz 151 von 180 Staaten. 



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