20.10.2009

Rangliste der Pressefreiheit 2009: Vorreiterrolle der europäischen Staaten in Gefahr

Mit Sorge betrachtet Reporter ohne Grenzen (ROG) die sukzessive Verschlechterung der Situation von Medien und Journalisten in einigen europäischen Ländern. Anlässlich der Veröffentlichung der neuen ROG-Rangliste zur weltweiten Lage der Pressefreiheit am 20. Oktober warnt die Organisation zur Verteidigung der Presse- und Meinungsfreiheit davor, dass Europa seine langjährige Vorbildfunktion verlieren könnte.

„Es ist beunruhigend festzustellen, dass demokratische Staaten wie Frankreich, Italien oder die Slowakei jedes Jahr weitere Plätze in der Rangliste verlieren“, sagte Jean-François Julliard, ROG-Generalsekretär bei der Vorstellung der Rangliste 2009. „Europa sollte eine Vorreiterrolle bei der Gewährung von bürgerlichen Freiheiten spielen. Wie können europäische Staaten Verstöße gegen die Pressefreiheit in der Welt verurteilen, ohne sich auf dem eigenen Territorium vorbildlich zu verhalten? Pressefreiheit muss überall in der Welt mit der gleichen Energie und Beharrlichkeit verteidigt werden“, forderte Julliard.

So hat beispielsweise Frankreich (43.) im Vergleich zum vergangenen Jahr acht Ränge verloren, Italien (49.) ist um fünf Plätze abgestiegen und die Slowakei (44.) sogar um 37 Plätze abgerutscht. Auch Bulgarien (68.) zeigt einen Abwärtstrend. Dieses Mal ist das südosteuropäische Land um weitere neun Ränge gefallen und bleibt damit Schlusslicht unter den EU-Staaten. Der EU-Beitrittskandidat Türkei sinkt um 20 Plätze im Ranking und steht damit auf Rang 122.

Damit werden eine Reihe von EU-Staaten in diesem Jahr von Staaten mit parlamentarischem System in Afrika – Mali (30.), Südafrika (33.) und Ghana (27.) – sowie in Lateinamerika – Uruguay (29.) und Trinidad und Tobago (28.) – überholt.

In einigen europäischen Ländern sind Medienmitarbeiter auch vor körperlichen Angriffen nicht sicher: In Italien sind mafiöse Gruppen und in Spanien (44., vorher 36.) die ETA für Gewalt und Drohungen gegen Medienvertreter verantwortlich. Auch auf dem Balkan dokumentierte ROG Fälle von Gewalt gegen Journalisten: So wurde beispielsweise in Kroatien (78.) der Eigentümer und Marketing-Direktor der Wochenzeitschrift „Nacional“ bei einem Bombenattentat getötet.

Trotz bedeutender Abwärtsbewegungen besetzen europäische Staaten weiterhin die Mehrheit der ersten 20 Plätze. Deutschland steht in diesem Jahr auf Platz 18 (2008: 20): Als kritisch bewertet wurde unter anderem das im vergangenen Januar in Kraft getretene BKA-Gesetz, das dem Bundeskriminalamt die Möglichkeit der Durchführung von Online-Durchsuchungen und Überwachung der Telekommunikation einräumt. Negativ ins Gewicht fielen auch Tendenzen der Pressekonzentration, der immer noch unzureichende Zugang zu öffentlichen Informationen sowie vereinzelte Fälle von körperlichen Übergriffen auf Journalisten.

Bei der Betrachtung der Entwicklung außereuropäischer Staaten fallen insbesondere die großen Rangverluste des Irans sowie Israels ins Auge: Der Iran (172.) gehört zu den Schlusslichtern auf der Liste, hinter ihm folgen nur noch Turkmenistan (173.), Nordkorea (174.) und Eritrea (175.) – alle drei Staaten belegten bereits im vergangenen Jahr die hintersten Ränge. In Eritrea werden immer noch keine unabhängigen Medien zugelassen. Nach neuen Festnahmen von Journalisten im Februar 2009 hat sich die Lage in dem ostafrikanischen Land weiter verschärft.

Israel verzeichnet einen Absturz um 47 Positionen und liegt nun auf Platz 93. Dahingegen konnten sich die Vereinigten Staaten (20.) in diesem Jahr um 16 Plätze verbessern.

Iran unter den Schlusslichtern
Repressionen, Drangsalierungen und Schikanen haben sich für iranische Journalisten und Journalistinnen in diesem Jahr extrem verschärft: Durch die umstrittene Wiederwahl von Präsident Mahmud Ahmadinedschad ist das Land in eine tiefe Krise gestürzt. Gleichzeitig verfestigte sich die Paranoia des Regimes gegenüber Medienmitarbeitern und Bloggern.

Wachsende Selbstzensur, staatliche Überwachung von Medien, Misshandlungen sowie illegale Festnahmen und Verhaftungen durch Polizei und Sicherheitskräfte und eine größer werdende Zahl von Journalisten auf der Flucht – so stellt sich die Lage der Medienfreiheit zur Zeit im Iran dar. Die islamische Republik hat deswegen weitere sechs Plätze verloren.

Israel: Nachrichtenkontrolle während des Gaza-Kriegs
Israels Militäroperation „Gegossenes Blei“ im Gazastreifen im Dezember 2008 und Januar 2009 beeinträchtigte auch die Lage der Medien und Journalisten in Israel selbst: Infolgedessen führt das Land nicht länger die Gruppe der Staaten des Nahen Ostens / Nordafrika an und steht hinter Kuweit (60.) und den Vereinigten Arabischen Emiraten (86.). Nicht nur bei der Berichterstattung aus Palästinensischen Gebieten hat Israel scharfe Restriktionen verhängt. Die Militärzensur bedroht die journalistische Berichts- und Recherchefreiheit auch im eigenen Land. ROG hat zudem eine Reihe von Festnahmen dokumentiert – einige von ihnen eindeutig ungesetzlich.

„Obama-Effekt“ bringt USA unter die „Top 20“
Die Vereinigten Staaten haben es in diesem Jahr unter die ersten 20 Staaten auf der Rangliste geschafft. Der neue politische Kurs nach Barack Obamas Amtsantritt im Januar 2009 ist eine Ursache für diese Entwicklung. So ist die Zahl der Fälle von Verletzungen des Quellenschutzes im Namen der nationalen Sicherheit zurückgegangen. Zudem gibt es ernst zu nehmende Bemühungen, den Zugang zu öffentlichen Informationen zu verbessern.

Ein anderes Bild ergibt sich jedoch in Betrachtung US-amerikanischer Auslandseinsätze (siehe Position 108 auf der Rangliste „außerhalb der USA“). So ist das Land weiterhin in zwei Kriege involviert: Die Haltung US-amerikanischer Militär- und Sicherheitsbehörden gegenüber Medien im Irak und Afghanistan bleibt besorgniserregend. ROG dokumentierte in beiden Ländern Übergriffe von Journalisten durch das US-Militär sowie mehrere Festnahmen von Pressevertretern.

Zur Erstellung der Rangliste
Für die Rangliste wurden Verstöße gegen die Pressefreiheit genauso wie Bemühungen der Staaten, dieses Menschenrecht umzusetzen im Zeitraum von September 2008 bis Ende August 2009 berücksichtigt.
Anhand eines Fragebogens wurden hierzu unsere Partner-Organisationen, unser Korrespondenten-Netzwerk sowie Journalisten, Rechercheure, Juristen und Menschenrechtler in den jeweiligen Ländern befragt.

Detaillierte Informationen zur ROG-Rangliste sowie zu einzelnen Regionen finden Sie hier.


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