Brasilien 30.09.2022

Wiederwahl Bolsonaros wäre fatal

Eine Passantin geht an einem Straßenverkaufsstand vorbei, der Handtücher mit den Gesichtern der Präsidentschaftskandidaten verkauft, im Stadtteil Lapa in Rio de Janeiro. © picture alliance / dpa / Fernando Souza

Vor der Präsidentschaftswahl in Brasilien am Sonntag (02.10.) warnt Reporter ohne Grenzen (RSF) vor einer Wiederwahl des rechtsextremen Präsidenten Jair Bolsonaro, der Angriffe auf die Presse zu einem Markenzeichen seiner Amtszeit gemacht hat. Unterstützt von einer immer aggressiver auftretenden Anhängerschaft und von Desinformationskampagnen, hat er die Pressefreiheit und das Recht auf Information im Land erheblich untergraben. Seine Wiederwahl würde die brasilianische Demokratie ernsthaft gefährden.

„Jair Bolsonaro hat vom ersten Tag seiner Amtszeit an mit aggressiver, feindseliger und oft vulgärer Rhetorik seine Anhängerschaft gegen die Presse in Brasilien aufgestachelt. Immer wieder hat er bewiesen, dass er keine Ahnung davon hat, was für eine Rolle dem Journalismus in demokratischen Gesellschaften zukommt. Medien sollten nach seiner Vorstellung reine Propagandawerkzeuge seiner Regierung sein. Eine zweite Amtszeit Bolsonaros wäre das Schlimmste, was der Pressefreiheit und damit der Demokratie in Brasilien aktuell passieren könnte“, sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr.

In den vergangenen Jahren und insbesondere seit der Wahl von Jair Bolsonaro zum Präsidenten Ende 2018 haben Online- wie Offline-Angriffe auf Journalistinnen und Journalisten in Brasilien an Häufigkeit und Intensität zugenommen. Die Zahl der Übergriffe – von Zerstörung von Ausrüstung, Drohungen und körperlicher Gewalt bis hin zu Morden an Medienschaffenden – hat in den ersten sechs Monaten des Jahres 2022 gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 69,2 Prozent zugenommen, wie kürzlich die Vereinigung brasilianischer Investigativjournalisten ABRAJI berichtete. In vielen Fällen erreichen diese Attacken ihr Ziel: Immer wieder üben kritische Medienschaffende Selbstzensur, um der ständigen Hetze zu entgehen, und schließen etwa ihre Social-Media-Accounts.

Im Wahlkampf ist das Online-Klima noch einmal aggressiver geworden, wie eine aktuelle RSF-Erhebung zeigt: Mit Unterstützung des Canada Fund for Local Initiatives (CFLI) und in Zusammenarbeit mit dem Laboratory for Image and Cyberculture Studies (LABIC) an der Staatlichen Universität Espirito Santo untersucht RSF Online-Angriffe auf Medienschaffende während des Wahlkampfes, der sich voraussichtlich noch bis zu einer Stichwahl zwischen Bolsonaro und seinem Herausforderer Luiz Inácio Lula da Silva am 30. Oktober hinziehen wird. Dafür werden zwischen dem 16. August und dem 16. November 2022 mehr als 100 Twitter- und Facebook-Konten von Journalistinnen, Behörden und Kandidaten auf Bundes- und Kommunalebene sowie die am häufigsten verwendeten anstößigen und herabwürdigenden Hashtags und Äußerungen in den sozialen Medien beobachtet und ausgewertet.

Allein in den ersten fünf Wochen haben RSF und seine Partner fast drei Millionen Social-Media-Posts mit beleidigenden Ausdrücken und Hashtags gezählt. Am meisten im Fokus des Hasses stehen der Medienkonzern Grupo Globo und fünf seiner Journalistinnen und Journalisten. Die Fernsehjournalistin Vera Magalhães, die auch Kolumnistin der Zeitung O Globo ist, ist die meistattackierte Medienschaffende. Auch offline muss sich Magalhães immer wieder Schmähungen gefallen lassen. So wurde sie am Ende eines Fernsehduells von dem Abgeordneten des Bundesstaates São Paulo Douglas Garcia verbal angegriffen, der unter anderem Bolsonaro mit den Worten zitierte, sie sei „eine Schande für den Journalismus“.

Bis Mitte November wertet RSF auf seiner portugiesischsprachigen Seite wöchentlich Zwischenergebnisse der Online-Studie aus. Anschließend soll aus diesen Erkenntnissen ein detaillierter Bericht entstehen. Ziel des Projekts ist es, Ursprung, Verteilung und Verbreitung dieser Online-Angriffe besser zu verstehen, die Hauptschuldigen zu benennen und wirksame und nachhaltige Lösungen zur Bekämpfung dieses Phänomens zu finden.

Bereits 2021 hatte RSF eine Untersuchung zum Verhalten brasilianischer Nutzerinnen und Nutzer auf Twitter durchgeführt – also der Plattform, auf der die meisten Angriffe auf Journalistinnen, Journalisten und Medien in Brasilien stattfinden. Die Erhebung zeigte, dass die meisten Angriffe von Anhängerinnen und Anhängern Bolsonaros ausgingen und dass ihre Hauptziele regierungskritische Medien und Medienschaffende waren.

Aktuelle Folge des RSF-Podcasts zum brasilianischen Wahlkampf

Auch die neue Folge des RSF-Podcasts „Pressefreiheit Grenzenlos“ beschäftigt sich mit der Lage der Pressefreiheit in Brasilien. In ihr spricht die Journalistin Helena Bertho über die Arbeitsbedingungen für Medienschaffende in einem seit Beginn des Wahlkampfes besonders aufgeheizten Klima. Bertho ist Mitgründerin von Revista AzMina, einer Online-Plattform für feministische und LGBTQ-Themen, Geschlechtergerechtigkeit und Frauenrechte – einem Medium also, das besonders im Fokus der Hetze von Präsident Bolsonaro und seinen Anhängerinnen und Anhängern steht.

Als Bertho 2019 einen Artikel zum Thema Abtreibung schrieb, gerieten sie und AzMina in den Fokus von Regierungsmitgliedern. Es folgten Strafanzeigen, gerichtliche Schikanen und Online-Belästigungen, mit denen sie sich bis heute auseinandersetzen müssen. Auch gab es wiederholt Versuche, die Webseite von AzMina und Social-Media-Accounts der Mitarbeitenden zu hacken.

Aufforderung an Kandidaten, für Pressefreiheit einzutreten

Gemeinsam mit zehn weiteren Pressefreiheits-Organisationen hat RSF zum offiziellen Beginn des Wahlkampfes im August Kandidatinnen und Kandidaten aufgefordert, eine Selbstverpflichtungserklärung zu unterzeichnen, dass sie sich im Wahlkampf für freie und sichere Arbeitsbedingungen für Medienschaffende einsetzen, sie in ihrer Arbeit zu unterstützen und Gewalt gegen sie zu verurteilen. Fünf Kandidatinnen und Kandidaten kleinerer Parteien haben dies inzwischen getan, die Spitzenkandidaten Lula und Bolsonaro noch nicht.

Schon vor Bolsonaros Amtsantritt war Brasilien eins der gefährlichsten Länder Lateinamerikas für Journalistinnen und Journalisten. In den vergangenen zehn Jahren wurden fast jedes Jahr in Brasilien mehrere Medienschaffende wegen oder in Zusammenhang mit ihrer Arbeit getötet. Zuletzt wurden im Juni der britische Journalist Dom Phillips und der ihn bei seinen Recherchen unterstützende Indigenenrechte-Aktivist Bruno Araujo Pereira in der Amazonas-Region ermordet. Präsident Bolsonaro hatte den beiden Getöteten in den Tagen nach ihrem Verschwinden selbst die Schuld an ihrem Schicksal gegeben.

Medienschaffende, die zu Themen wie Indigenen-Rechten und illegaler Abholzung in der Amazonas-Region recherchieren, werden immer wieder gewaltsam angegriffen. Unter den ermordeten oder mit dem Tod bedrohten Journalisten der vergangenen Jahre waren zudem viele Lokalreporter, die Korruption und andere Missstände in ihren Gemeinden anprangerten.

Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht Brasilien auf Platz 110 von 180 Staaten. 



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