Update: Seit mehreren Tagen läuft eine Diffamierungskampagne gegen ARD-Korrespondentin Sophie von der Tann. In einem offenen Brief zeigen sich Kolleginnen und Kollegen nun solidarisch und rufen dazu auf, die Medienfreiheit zu respektieren. Sie schreiben: „Sachlicher Kritik stellen wir uns täglich. Die derzeitigen Angriffe haben jedoch jedes Maß verloren. Sie zielen offenbar darauf ab, das Ansehen unserer Kollegin zu zerstören sowie kritischen Journalismus zu delegitimieren.“
RSF-Pressemitteilung vom 2.12.25:
Reporter ohne Grenzen (RSF) zeigt sich solidarisch mit der ARD-Nahost-Korrespondentin Sophie von der Tann. Sie sieht sich derzeit einem Shitstorm gegenüber, der sich nicht auf Social Media beschränkt. Vor diesem Hintergrund kritisiert RSF die Rolle von Vertretern des israelischen Staates: Der Reserve-Armeesprecher Arye Shalicar schrieb, von der Tann sei “das Gesicht vom neu-deutschen Juden- und Israelhass”. Shalicar, aber auch Ron Prosor, der israelische Botschafter in Deutschland, nutzen Social Media immer wieder dazu, um einzelne Journalist*innen persönlich anzugreifen. Die ARD-Korrespondentin von der Tann ist dabei immer wieder das Ziel.
„Wir stehen an der Seite von Sophie von der Tann. Selbstverständlich soll und darf journalistische Arbeit sachlich kritisiert werden. Wenn jedoch offizielle Vertreter*innen eines Staates ihre Rolle, ihre Reichweite und ihren Einfluss dazu nutzen, einzelne Medienschaffende namentlich zu diffamieren, überschreiten sie eine Grenze“, sagt RSF-Geschäftsführerin Anja Osterhaus. „Solche Einschüchterungsversuche und Beleidigungen können schwerwiegende Folgen für das Ansehen bis hin zur Sicherheit der Betroffenen haben. Ziel scheint es zu sein, Medienschaffende von bestimmter Berichterstattung abzuhalten. Das ist inakzeptabel.“
„Judenhass“, „widerlicher antisemitischer Sumpf“, „manipulative Rhetorik“
Auch vor den aktuellen Angriffen gegen Sophie von der Tann wurden Journalist*innen und Medien regelmäßig angegangen, teils diffamiert.
- So nannte Ron Prosor am 7. November den Spiegel den größten „Terroristen-Verharmloser im ganzen Land”; das Nachrichtenmagazin hatte vorher zur möglichen Hamas-Mitgliedschaft eines Medienschaffenden in Gaza recherchiert.
- Am 17. Juli warf er Sophie von der Tann vor, „die Geschichte zu verdrehen und zu relativieren”. Sie hatte zuvor lediglich auf Instagram einen New-York-Times-Beitrag des US-israelischen Historikers Omer Bartov geteilt, in dem er Israel Völkermord vorwarf.
- Am 16. Juni bezeichnete Shalicar die Arbeit des Spiegel-Korrespondentin Thore Schröder als „krank“, und verglich das Magazin mit dem antisemitischen NS-Hetzblatt „Der Stürmer“. Anlass war ein Text von Schröder, der sich kritisch mit der israelischen Kriegsführung gegen den Iran befasste.
- Am 27. März erschien auf dem X-Account der israelischen Botschaft in Deutschland ein Post, in dem der taz-Journalist Daniel Bax angegangen wurde. Man solle ihn „bloß nicht mit den Fakten“ verwirren. Bax hatte zuvor über die gezielte Tötung eines palästinensischen Journalisten berichtet, dem das israelische Militär vorwarf, ein Hamas-Terrorist gewesen zu sein. An diesem Vorwurf hat auch RSF begründete Zweifel.
- Am 20. Februar veröffentlichte Shalicar eine Liste von zehn Personen, die mit „Top-10 Verbreiter von Judenhass auf X” in Deutschland überschrieben war, darunter auch mehrere Medienschaffende. Am 26. Februar postete er die Liste erneut und schrieb dazu: „Was für häßliche [sic] Menschen. Was für ein widerlicher antisemitischer Sumpf. Sie sollten sich schämen! Spült sie an den Rand der Gesellschaft.“
- Am 3. Januar warf Prosor dem ARD-Journalisten Jörg Poppendieck „manipulative Rhetorik und billige Effekthascherei“ vor. Poppendieck hatte für die Tagesschau aus Israel über den Krieg in Gaza berichtet.
RSF hat weitere ähnliche Fälle dokumentiert. Alleine auf X, vormals Twitter, gab es in den vergangenen vier Jahren über ein Dutzend Posts, in denen einzelne Journalist*innen von Amtsträgern namentlich angegangen wurden. Das Medienmagazin Übermedien hat diese und weitere Beispiele im September zusammengefasst und kritisiert.
Einschüchterung und Behinderung journalistischer Arbeit
Auch andere Korrespondent*innen in Israel berichten von Behinderungen und Einschüchterungsversuche durch offizielle Stellen. So berichtete eine deutsche Journalistin gegenüber RSF von offenen Warnungen: Sie dürfe bestimmte Informationen nicht veröffentlichen, da diese „ihr später auf die Füße fallen“ könnten. Ein langjähriger deutscher Korrespondent berichtete, es sei üblich, dass junge Kolleg*innen kurz nach ihrem Antritt auf ihrer Position von offiziellen israelischen Stellen kontaktiert würden und „Schüsse vor den Bug” bekämen.
Besonders erschreckend war die Behandlung der taz-Korrespondentin Serena Bilanceri am 7. Juli auf dem Flughafen Tel Aviv. Dort nahmen ihr Sicherheitskräfte ihren Arbeitslaptop ohne nähere Erklärung ab und gaben ihn auch nach Stunden und mehrmaliger Aufforderung nicht zurück. Sie bekam den Laptop erst nach neun Tage und entschiedenen Interventionen von ihrer Redaktion, Journalistenverbänden und dem Auswärtigen Amt zurück - allerdings schwer beschädigt und nicht mehr nutzbar. Die Daten auf dem Rechner waren nicht mehr zugänglich. Trotz mehrfacher Nachfragen auch durch das Auswärtige Amt erklärten die Sicherheitsbehörden bis heute nicht, was sie mit dem Gerät unternommen haben.
Die Arbeit ausländischer Journalist*innen in Israel und den Palästinensischen Gebieten ist seit mehr als zwei Jahren insbesondere dadurch eingeschränkt, dass die Netanjahu-Regierung freie Berichterstattung im Gazastreifen verhindert. Es finden lediglich seltene, streng geführte Militärtouren statt, um die eigene Sicht auf den Krieg zu vermitteln. Ausländische Medien sind bei ihrer Berichterstattung über den Gaza-Krieg somit vollständig auf palästinensische Kolleg*innen angewiesen.
Die israelische Armee hat seit dem 7. Oktober mehr als 210 Journalist*innen getötet, einige von ihnen gezielt, und nur in Einzelfällen mutmaßliche Beweise für eine Mitgliedschaft in Terrororganisationen vorgelegt. Der Gaza-Krieg ist somit der tödlichste Konflikt für Medienschaffende in unserer Zeit.
Auf der Rangliste der Pressefreiheit belegt Israel mittlerweile Rang 112 von 180.
