Deutschland

Symbolpolitik statt humanitäre Aufnahme

Symbolpolitik statt humanitäre Aufnahme
© picture alliance / Flashpic | Jens Krick
Beschleunigte Aufnahmeverfahren sollen für Menschen aus Belarus, Russland und Iran nicht mehr angewendet werden.

„Die Bundesregierung will die seit mehreren Monaten ausgesetzte Vergabe von humanitären Visa wiederaufnehmen“, schreibt die FAZ am 25. August in ihrem Liveticker. Was nach schneller Hilfe für hochgradig gefährdete Medienschaffende aus Ländern wie Russland, Belarus und dem Iran klingt, entpuppt sich nach näherer Analyse jedoch als reiner Akt von Symbolpolitik. Denn seit Antritt der Bundesregierung wurden alle Schutzprogramme grundlegend dahingehend überprüft, ob sie beendet werden können. Wie Auswärtiges Amt und Innenministerium selbst einräumen, sollen beschleunigte Aufnahmeverfahren für Menschen aus Belarus, Russland und Iran nicht mehr angewendet werden. Auch alle bereits erteilten Aufnahmezusagen für hoch gefährdete Journalistinnen und Menschenrechtsverteidiger sollen nun erneut überprüft werden.

„Die Bundesregierung verkauft Symbolpolitik als Fortschritt“, sagt RSF-Geschäftsführerin Anja Osterhaus. „Auf dem Papier mag das Moratorium aufgehoben sein – in der Praxis bleibt hoch gefährdeten Medienschaffenden der Zugang zu Schutzprogrammen jedoch versperrt. Es fehlt jegliche Transparenz, nach welchen Kriterien und vor welchem zeitlichen Horizont künftig humanitäre Visa vergeben werden. De facto verschließt die Bundesregierung damit denjenigen sichere Fluchtwege, die das Grundrecht auf Pressefreiheit unter großen persönlichen Gefahren verteidigen, und nimmt ihnen die Chance, aus dem Exil heraus weiter Menschen in ihren Heimatländern zu informieren.“

Reporter ohne Grenzen erläutert, warum die jüngste Ankündigung der Bundesregierung hochgradig gefährdeten Medienschaffenden keinen Ausweg aus ihrer Situation verspricht:

1) Was bedeutet die Aufhebung des Moratoriums für bedrohte Menschenrechtsverteidigerinnen und Journalisten?

„Die humanitären Aufnahmeverfahren sind derzeit ausgesetzt“, heißt es weiterhin auf der Webseite des Bundesinnenministeriums (Stand: 29.08.25). Das vereinfachte Aufnahmeverfahren für hoch gefährdete Akteure der Zivilgesellschaft aus Belarus, Russland und dem Iran, das sich seit 2022 bewährt hat, soll nicht mehr angewandt werden. Ursprünglich sollte es ein klares Signal der Unterstützung senden – “zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland“: 2020 nach den Präsidentschaftswahlen in Belarus, 2022 nach der russischen Invasion in der Ukraine und im Herbst desselben Jahres nach den „Frau, Leben, Freiheit“-Protesten im Iran. 

Bedrohte Personen sollten auf Grundlage von Kriterienkatalogen, die vom Bundesinnenministerium und Auswärtigem Amt eigens für diese Notlagen erarbeitet wurden, in einem vereinfachten Verfahren ein humanitäres Visum beantragen können. Mit der jüngsten Aufhebung des Moratoriums entfallen nach RSF-Informationen die seit 2022 geltenden Prüfkriterien. Zurück bleiben mutmaßlich die restriktiven Maßstäbe von vor Februar 2022: Aussicht auf Aufnahme haben nur wenige, vorzugsweise international bekannte Oppositionelle, die eine lückenlos dokumentierte Verfolgung und enge Bindung an Deutschland nachweisen können.

2) Nach welchen Kriterien sollen künftig humanitäre Visa vergeben werden?

Die Bundesregierung hat die Wiederaufnahme der Visabearbeitung öffentlich erklärt, bleibt aber konkrete Informationen schuldig, nach welchen Kriterien diese künftig vergeben werden sollen. Auch in ihrer Antwort vom 25.08.2025 auf eine Kleine Anfrage bleibt die Bundesregierung gezielt vage. Zwar wird dort erklärt, Verfahren nach § 22 Abs. 2 seien wieder aufgenommen worden – doch weder die Gründe für die bisherige Aussetzung noch konkrete Angaben zum Umfang der Wiederaufnahme werden genannt. Die sogenannten “beschleunigten Verfahren” werden nicht mehr angewendet. Konkret bedeutet das, dass nur noch äußerst komplexe und bürokratische Verfahren möglich sind – an deren Anforderungen die meisten Betroffenen scheitern würden. NGOs und Fachorganisationen wurden bislang überhaupt nicht in die Diskussion über neue Kriterien einbezogen – obwohl sie Betroffene seit Jahren begleiten und über entscheidende Expertise verfügen. 

3) Wie viele Medienschaffende hat RSF bislang auf dem Weg ins Exil unterstützt?

Reporter ohne Grenzen hat in den vergangenen drei Jahren über 250 Medienschaffende aus Russland, Belarus und dem Iran bei Einreiseverfahren unterstützen können. Die meisten von ihnen leben und arbeiten heute in Deutschland. Ihr Fachwissen ist von enormem Wert für die deutsche Gesellschaft, da sie häufig besser darin geschult sind, die aus ihren Heimat-Regimen stammende Desinformation und Propaganda frühzeitig zu entlarven.

4) Was passiert mit Medienschaffenden, die bereits eine Aufnahmezusage hatten?

Es ist offen, was mit den gefährdeten Journalistinnen und Journalisten geschieht, die noch vor dem Einfrieren aller Aufnahmeverfahren eine Aufnahmezusage erhalten haben. Viele von ihnen halten sich versteckt und warten, teilweise in ebenfalls unsicheren Drittländern, dass die Bundesregierung ihr Versprechen endlich einhält. Reporter ohne Grenzen sind Fälle bekannt, in denen Aufnahmezusagen zurückgezogen wurden.   

5) Was fordert Reporter ohne Grenzen?

Um bedrohten Medienschaffenden in akuter Gefährdungslage helfen zu können, sollten die bewährten Aufnahmeverfahren weiterhin wirksam und verlässlich gestaltet werden durch:

  • schnelle und unbürokratische Verfahren, die akuter Bedrohung gerecht werden, unter Fortführung der bewährten länderspezifischen Kriterien 
  • Einhaltung bereits erteilter Aufnahmezusagen  
  • Transparenz über Kriterien, Abläufe und Zeitpläne
  • Verankerung der Aufnahmen nach §22 im Rahmen der Haushaltsplanung
  • Einbindung der Zivilgesellschaft

Interviewangebote

Reporter ohne Grenzen vermittelt gern Kontakte zu akut gefährdeten Journalistinnen und Journalisten aus Russland, Belarus und dem Iran, deren Visaanträge aktuell nicht weiter bearbeitet werden und die über ihre Situation sprechen möchten. Für Interviewanfragen wenden Sie sich bitte an: presse@reporter-ohne-grenzen.de