Serbien

Proteste gegen die Regierung: Mindestens 89 Angriffe auf Journalisten innerhalb eines Jahres

Proteste gegen die Regierung: Mindestens 89 Angriffe auf Journalisten innerhalb eines Jahres
picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Marko Drobnjakovic
In Serbien wurden binnen eines Jahres mind. 89 Journalist*innen angegriffen – die Hälfte durch Polizei. RSF unterstützt lokale Reporter*innen mit Schutzmaterial.

Fast ein Jahr nach Beginn der zivilen Proteste gegen die Regierung von Aleksandar Vučić – ausgelöst durch den tödlichen Einsturz des Dachs eines Bahnhofs in Nordserbien am 1. November 2024 – werden Medienschaffende, die darüber berichten, weiterhin gezielt angegriffen. Innerhalb eines Jahres wurden mindestens 89 körperliche Attacken dokumentiert – ein trauriger Rekord. Reporter ohne Grenzen (RSF) unterstützt den Unabhängigen Journalistenverband Serbiens (NUNS) mit finanzieller und technischer Hilfe, um Medienschaffende mit Schutzwesten und Helmen auszustatten.

Die Angriffe auf Journalistinnen und Reporter zeigen, wie fragil Pressefreiheit in Serbien ist“, sagt Anja Osterhaus, Geschäftsführerin von Reporter ohne Grenzen Deutschland. „Wenn Sicherheitskräfte zu Tätern werden und Gewalt gegen Reporter geduldet oder gar angeordnet wird, muss Europa im Hinblick auf den Beitrittswunsch Serbiens reagieren – nicht nur mit Worten, sondern mit Konsequenzen. Auch die deutsche Bundesregierung muss dazu ihren Beitrag leisten. Pressefreiheit ist kein nationaler Luxus, sondern ein europäisches Versprechen.“

So werden Medienschaffende attackiert

Als der unabhängige Journalist Dalibor Stupar die Ankunft regierungstreuer Aktivisten per Bus filmen wollte, wurde er ausgerechnet von denjenigen daran gehindert, die ihn hätten schützen sollen: Die Polizei stieß ihn, beschlagnahmte widerrechtlich sein Handy und behauptete, er habe kein Recht, die regierungsnahe Gegendemonstration am 11. Oktober zu dokumentieren. Der Angriff auf den Reporter der Beta-Nachrichtenagentur und der Plattform Autonomija steht exemplarisch für die Situation vieler serbischer Journalistinnen und Reporter, die seit dem Einsturz des Bahnhofs von Novi Sad, bei dem 16 Menschen ums Leben kamen, über die anhaltenden Proteste berichten.

Seit dem 1. November 2024 wurden laut RSF-Zählung mindestens 89 körperliche Angriffe auf Medienschaffende verzeichnet. Allein im Jahr 2025 summieren sich die Fälle auf 82 – der höchste Jahreswert seit 2008, wie Vergleichsdaten von RSF und dem lokalen Partner NUNS zeigen. Etwa die Hälfte der Gewalttaten wurde von Einsatzkräften begangen, die zudem häufig wegsehen, wenn Journalisten von regierungsnahen Demonstrierenden attackiert werden.

Europäische Reaktionen auf RSF-Appelle

Nach den Appellen von RSF und anderen internationalen sowie serbischen Organisationen im Juli und August 2025 kritisierte das Europäische Parlament die serbische Regierung in einer am 22. Oktober angenommenen Resolution scharf. Darin heißt es, zahlreiche Medienschaffende seien während der Protestberichterstattung angegriffen oder ihres Schutzes beraubt worden. Die Abgeordneten verurteilen insbesondere die Hetze von Präsident Aleksandar Vučić, der die Proteste als von westlichen Geheimdiensten finanzierte Aufruhr bezeichnet und dieses Narrativ über regierungsnahe Medien verbreitet hatte.

Die Resolution prangert außerdem politischen Druck gegen den größten unabhängigen Sender des Landes, N1, an, dessen Redaktion im Rahmen der RSF-Press Freedom Awards für ihre Protestberichterstattung für die Auszeichnung für mutige Berichterstattung (Courage Prize) nominiert wurde.

Eine Woche vor der Resolution des Europäischen Parlaments hatte sich EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei ihrem Treffen mit Vučić in Belgrad auf den vagen Appell nach „Fortschritten bei der Medienfreiheit“ beschränkt – obwohl neun internationale Organisationen, darunter RSF, sie zuvor vor den Folgen europäischer Untätigkeit gewarnt hatten: „Die der Kommission zur Verfügung stehenden Instrumente – etwa die Aussetzung von EU-Fördermitteln – müssen genutzt werden, um ein klares Signal zugunsten unabhängiger Medien und freier Berichterstattung in der Region zu senden“, hieß es im gemeinsamen Schreiben vom 13. Oktober.

Zwei besonders gewalttätige Tage

Seit der letzten RSF-Bewertung im August 2025 kam es an zwei Tagen zu besonders schweren Übergriffen auf Journalistinnen und Reporter in Novi Sad. Am 5. September attackierten Sicherheitskräfte Emir Kahrimanovic von 021.rs, Katarina Stevanovic vom Wochenmagazin Vreme, Nemanja Sarović vom Sender KTV sowie Ksenija Pavkov und ihren Kameramann von N1.
Bei einer Razzia an der Universität Novi Sad wurden zudem mehrere Mitglieder der Studierenden-Redaktion von Blokada info festgenommen und ihre Geräte beschlagnahmt.

Am 11. Oktober gingen Einsatzkräfte erneut mit übermäßiger Gewalt gegen Journalistinnen und Reporter vor – darunter Darija Matic (Masina.rs), Brankica Matic (Storyteller) sowie Miljko Stojanovic und Andela Risantijevic (Glas Zajecara). Am selben Tag wurde N1-Reporterin Lea Apro von einem Mann bedroht, verfolgt und ihr Handy wurde entwendet – der Täter wurde festgenommen, ein seltener Ausnahmefall.

Auf der Rangliste der Pressefreiheit belegt Serbien Rang 96 von 180 Ländern.