Nahaufnahme Deutschland: Pressefreiheit im Überblick

Zusammenfassung

Die Lage der Pressefreiheit in Deutschland hat sich 2022 in der Gesamtbewertung von Reporter ohne Grenzen (RSF) leicht verschlechtert. In der aktuellen Rangliste der Pressefreiheit belegt Deutschland Rang 21, nach Rang 16 im Vorjahr. Zwar ist die Gesamtpunktzahl (81,91 von 100 erreichbaren) nur um 0,13 Punkte gefallen. Jedoch haben einige Länder wie Lettland, Luxemburg und Slowakei ihre Punktwerte verbessern können und sind dadurch in der Rangliste an Deutschland vorbeigezogen.

Vor allem das Kriterium „Sicherheit von Medienmitarbeitenden“ hat die Position Deutschlands verschlechtert. Insgesamt 103 Angriffe hat Reporter ohne Grenzen im Jahr 2022 dokumentiert (Vorjahr: 80). Mit 87 von 103 Fällen fand die große Mehrheit in verschwörungsideologischen, antisemitischen und extrem rechten Kontexten statt. Gefährlichster Ort waren wie in den Vorjahren Demonstrationen, meist gegen Coronamaßnahmen.

Eine Befragung der angegriffenen Journalist*innen durch RSF zeigte, dass zwar etwa ein Drittel sich durch die Polizei unterstützt fühlte, knapp ein weiteres Drittel beklagte aber, anwesende Polizist*innen hätten Angriffen tatenlos zugesehen oder den Berichterstattenden die Schuld gegeben. In einigen Fällen berichten Betroffene auch von Übergriffen Polizeiangehöriger. Allgemein wird beklagt, dass Angriffe auf Journalist*innen selten von Polizei und Justiz verfolgt würden.

Der Bereich von Gesetzesvorhaben und EU-Verordnungen bietet ein zwiespältiges Bild. RSF legt derzeit auch gegen das novellierte BND-Gesetz Verfassungsbeschwerde ein, das weiterhin ausländischen Journalist*innen weniger Schutz bietet als deutschen. Auch gegen den Einsatz von sogenannten Staatstrojanern zum Ausspähen von Computern nach dem Artikel-10-Gesetz klagt RSF in Karlsruhe. Problematisch ist zudem die von der EU geplante Chatkontrolle. Ursprünglich zum Kinderschutz gedacht, würde sie auch in Deutschland eine fast komplette Überwachung privater und journalistischer Chats ermöglichen.

Grundsätzlich positiv dagegen bewertet RSF den Digital Services Act (DSA) der EU, der die großen Internetkonzerne in die Pflicht nimmt. In die richtige Richtung geht auch der Entwurf des European Media Freedom Act, der Europa vor zunehmender Desinformation schützen soll. Hier fordert RSF noch mehr Harmonisierung, um einzelnen Ländern möglichst wenig Spielraum zu geben, die Regeln auf nationaler Ebene zu verwässern.

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Gewalt gegen Berichtende und Redaktionen

Für das Kalenderjahr 2022 hat Reporter ohne Grenzen (RSF) insgesamt 103 Angriffe auf Medienschaffende geprüft und dokumentiert. Das ist der höchste Stand seit Beginn der Zählung im Jahr 2015. Zum Vergleich: 2021 gab es 80 Angriffe, 2020 waren es 65 (siehe Abbildung).

Entwicklung der Angriffe auf Journalist*innen und Medien

 

Das Ausmaß der Gewalt gegen Medienschaffende dürfte in der Realität noch größer sein, von einer hohen Dunkelziffer ist auszugehen. Da es zu vielen Fällen von Übergriffen und Angriffen nur Schilderungen, aber keine Ermittlungen oder Gerichtsverfahren gibt, kann eine solche Zählung wissenschaftlichen oder juristischen Kriterien nicht genügen. Sie versucht jedoch, das Dunkelfeld von Gewalt gegen Medienschaffende nach Möglichkeit zu erhellen.

Am häufigsten waren im Jahr 2022 Tritte und Schläge, auch mit Gegenständen (wie Plakaten, Trommelklöppeln oder Quarzhandschuhen). Als Angriff gewertet wurden diese, sofern sie die Körper und / oder die Ausrüstung von Journalist*innen tatsächlich getroffen haben. Medienschaffende wurden auch mit Gegenständen beworfen (z.B. Eiern, Glasflaschen oder Schlamm), festgehalten, an den Haaren gezogen oder gewürgt. In anderen Fällen hielten Angreifende ein Megafon mit lauten Geräuschen an das Ohr der Betroffenen, rissen ihnen die Corona-Schutzmaske herunter oder schubsten sie so, dass sie stürzten oder verletzt wurden.

So wurden die Journalist*innen angegriffen

 

Verschwörungsideologischer und rechtsextremer Kontext

Mit rund 84 Prozent (87 von 103 Fällen) fand die Mehrheit der Angriffe im verschwörungsideologischen, antisemitischen oder extrem rechten Kontext statt. Seit Beginn der Pandemie haben extrem rechte Personen und Gruppen an den Veranstaltungen der Querdenken-Bewegung teilgenommen und dort Journalist*innen angegriffen; inzwischen werden diese Veranstaltungen häufig von bekannten Rechtsextremen organisiert, sodass eine analytische Trennung von extrem rechten und anderen Motiven nicht mehr möglich ist.

Bei 36 dieser Angriffe konnte ein rechter bis extrem rechter Hintergrund bestätigt werden, etwa weil die Angreifenden namentlich bekannt oder Mitglieder rechter Organisationen wie AfD, Die Basis, Dritter Weg, Freie Sachsen und NPD sind. Neben Angriffen aus extrem rechten Parteien und militanten Neonazi-Organisationen wie dem Thüringer Heimatschutz sowie der verbotenen nationalsozialistischen Vereinigung Combat 18 waren auch rechtsextreme Hooligans von Dynamo Dresden beteiligt. Am 1. Oktober griffen sie einen Reporter des Kurier sowie mehrere Polizist*innen an und brachten die beiden Kameras des Reporters in ihren Besitz.

Am 20. August stürmte der parteilose Bürgermeister von Bad Lobenstein in Thüringen, Thomas Weigelt, der mit Reichsbürgern in Verbindung steht, bei einem Marktfest auf den Reporter Peter Hagen von der Ostthüringer Zeitung zu, sodass dieser stürzte und sich verletzte; dabei nahm seine Filmausrüstung Schaden. Der Reporter stellte Anzeige wegen Körperverletzung und Sachbeschädigung, der Bürgermeister wurde suspendiert.

Sehr viele der Angriffe ereigneten sich bei Aufmärschen der Querdenken-Bewegung, aber auch bei einer Pressekonferenz zum Thema Corona am 23. August in München. Dort beschimpfte ein rechtsextremer Impfgegner einen Reporter des Bayerischen Rundfunks und schlug ihm mehrmals mit der Faust auf den Kopf. Bei einer Veranstaltung des verschwörungsideologischen Vereins Bautzner Frieden am 2. September attackierten Neonazis in Neukirch im Landkreis Bautzen einen Journalisten und eine Fotografin des Magazins Cicero. Die Neonazis bedrängten und beschimpften die Medienschaffenden und beschädigten deren Fahrzeug. 

Demonstrationen als gefährlichster Ort

Der gefährlichste Ort für Journalist*innen waren Demonstrationen, hier wurden rund 84 Prozent der Angriffe (86 von 103 Fällen) gezählt. Am 6. Januar übergossen Teilnehmende eines „Querdenken“-Protests im bayerischen Mittenwald einen Fotografen von hinten mit Kerzenwachs. Bei einem sogenannten Montagsspaziergang am 26. Januar in Homburg (Saar) rammte  ein rechtsextremer Teilnehmer einem Reporter der Rheinpfalz mit voller Wucht den Kopf in den Bauch. Der Täter wurde zu einer Geldstrafe verurteilt. Bei einem Gedenkmarsch der Neonazipartei „Freie Sachsen“ am 13. Februar hielt ein Teilnehmer einem Kameramann eine Kerze unter dessen Vollbart und brannte diesen teilweise ab.  Wie bereits in den Vorjahren wurde Jörg Reichel, Geschäftsführer der dju in ver.di Berlin-Brandenburg, der seit langem als Kontaktperson für den Schutz von Journalist*innen auf Demonstrationen gilt, auch im Jahr 2022 angegriffen. Demonstrierende traten dem Gewerkschafter am 23. April in Berlin von hinten in die Beine, schubsten ihn und forderten ihn auf, die Versammlung zu verlassen. Am 27. April schlug ein Demonstrant in München einem Journalisten mit der Faust ins Gesicht. Am Rande einer Demonstration am 3. Oktober im thüringischen Heiligenstadt erlitt ein Journalist blaue Flecken und einen Schlag auf die Schläfe. Sein Begleitschutz wurde ebenfalls angegriffen und leicht verletzt. 

Verifizierte Angriffe auf Journalist*innen

 

Die meisten der 103 verifizierten Angriffe ereigneten sich in Sachsen (24), gefolgt von Berlin (17), Thüringen (13), Bayern (10), Baden-Württemberg (9), Sachsen-Anhalt (7), Rheinland-Pfalz (5), Mecklenburg-Vorpommern (4), Niedersachsen (4), Hessen (3), Nordrhein-Westfalen (3), Schleswig-Holstein (2), Hamburg (1) und Saarland (1). 

Fast die Hälfte der Angriffe (48 von 103 Fällen) wurden in den ostdeutschen Bundesländern Sachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern verübt, wo besonders viele rechtsextreme Veranstaltungen stattfanden.

Bei der Querdenken-Bewegung beobachtete RSF 2022 eine deutlich höhere Gewaltbereitschaft gegenüber der Presse als am Anfang der Pandemie. Dies bestätigen auch Statistiken der Landeskriminalämter Sachsen und Thüringen sowie der unabhängigen Opferberatungsstellen in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt.

Die verschwörungsideologische Bewegung hat sich nach der Ausweitung des russischen Kriegs in der Ukraine neu vernetzt, etwa mit Teilen der Friedensbewegung. Eines von vielen Beispielen dafür ist der Angriff auf eine Journalistin vom 5. November in Berlin bei einer Querfront-Demonstration, an der ihrer Selbstbezeichnung nach sowohl Rechte als auch Linke teilnahmen.

Straflosigkeit senkt die Hemmschwelle

Seit nunmehr zwei Jahren haben gewalttätige Teilnehmende der Querdenken-Proteste die Erfahrung gemacht: Mit Strafen müssen sie kaum rechnen. Obwohl die Polizei Betroffenen zufolge oft vor Ort war und manchmal unmittelbar daneben stand, griff diese oftmals nicht ein und leitete auch keine Ermittlungen ein. Nicht einmal in der Hälfte der 103 Fälle entschieden Betroffene sich für eine Anzeige, noch wurde von Amts wegen ermittelt.

Ein Grund, warum Journalist*innen auf Anzeigen verzichten, ist Angst. Die Betroffenen versuchen, sich vor weiteren Angriffen zu schützen, indem sie vermeiden, dass gewaltbereite Neonazis und deren Netzwerke ihre Adressen erhalten, die bei einer Anzeige in der Ermittlungsakte stehen und üblicherweise von Beschuldigten und ihrer Verteidigung eingesehen werden können. 

Mangelhafter Schutz

Nicht nur von der Justiz, sondern auch von der Polizei fühlten Journalist*innen sich im Stich gelassen. Auch bei angemeldeten Demonstrationen waren die Einsatzkräfte oft nicht in der Lage, für die Sicherheit von Journalist*innen zu sorgen. 

Erstmals hat RSF Betroffene systematisch zu ihren Erfahrungen mit der Polizei befragt. In knapp einem Drittel aller Fälle (27 von 88) verhielt sich die Polizei nach einem Angriff zur Zufriedenheit der Journalist*innen, etwa indem sie diesen half, wieder aufzustehen, freundlich mit ihnen sprach, eine Anzeige aufnahm oder Tatverdächtige festnahm. In einzelnen Fällen eskortierte die Polizei Reporter*innen aus Demonstrationen hinaus, so dass diese zwar in Sicherheit waren, aber nicht mehr aus der Nähe berichten konnten. 

In knapp einem Fünftel der Fälle (17 von 88) gaben die Betroffenen an, dass ihnen Unterstützung verwehrt blieb, obwohl sich Polizist*innen ganz in der Nähe aufhielten oder zum Einschreiten aufgefordert wurden.

Betroffene berichteten RSF auch von einer Täter-Opfer-Umkehr durch die Polizei. Polizist*innen gaben den Journalist*innen die Schuld oder eine Mitverantwortung dafür, angegriffen worden zu sein. Statt die Tatverdächtigen zu verfolgen,  nahm die Polizei  die Personalien der Journalist*innen auf. 

In sechs Fällen griffen Polizist*innen Pressevertreter*innen an. Bei einer „Querdenken“-Demonstration am 14. Februar 2022 in Hannover schubste ein Polizist einen filmenden Journalisten und schlug ihm das Smartphone aus der Hand. Ein*e Journalist*in beschrieb, die Polizei habe ihr*ihm - offenbar absichtlich - Pfefferspray ins Gesicht gesprüht, nachdem sie*er auf ihren Pressestatus hingewiesen habe. Auf eine Anzeige verzichtete die betroffene Person. In einem anderen der sechs Fälle entschuldigte sich die Polizei im Nachhinein.

Im Vergleich zu 2021 (12 Angriffe von Polizist*innen) war 2022 die Zahl bestätigter Angriffe mit sechs niedriger. Der Hergang einiger anderer Fälle konnte allerdings nicht abschließend geklärt werden. 

Sechs der 103 dokumentierten Fälle ereigneten sich bei pro-palästinensischen Demonstrationen, bei denen Israel kritisiert und zu dessen Vernichtung aufgerufen wurde.

In einem Fall am 20. Februar in Berlin stachen Angreifende mit der Spitze eines Regenschirms auf einen Journalisten ein und beschimpften diesen. Die weiteren fünf Angriffe ereigneten sich am 23. April 2022 in Berlin: Demonstrierende traten und schlugen auf mehrere Journalist*innen ein, bedrängten, bedrohten und beschimpften sie antisemitisch. Betroffen war etwa ein Reporter der BILD, den die Angreifer mit „Scheißjude” beleidigten. Der Anmelder schloss mehrere Pressevertreter*innen von der Demonstration aus und berief sich dabei auf das Versammlungsgesetz. Angemeldet hatte die Versammlung der Verein „Palästina spricht“, der sich selbst als „demokratische und anti-rassistische Bewegung“ bezeichnet. 

Tatverdächtige aus dem linken Milieu gab es mit Ausnahme dieser pro-palästinensischen Demonstration im Jahr 2022 nicht. Dagegen wurden linke Medienschaffende wiederholt angegriffen. So attackierten am 22. März Coronaleugnende das Verlagsgebäude der linken Tageszeitung nd (ehemals Neues Deutschland). Die Gewalttäter zerstörten Scheiben, warfen mit Flaschen und griffen einen im Gebäude Beschäftigten an. 

In der Nacht zum 25. Mai 2022 beschmierten Unbekannte die Fenster des Verlagsgebäudes der Berliner Tageszeitung Junge Welt. Schon zuvor war es zu Sachbeschädigungen und einem Einbruch gekommen, bei dem Büroräume verwüstet wurden.

Bei einer transfeindlichen Veranstaltung kam es am 24. September in Berlin zu einem Angriff auf eine Journalistin. Während diese eine Demonstration gegen das Selbstbestimmungsgesetz dokumentierte, kam eine Teilnehmerin auf die Journalistin zu und schlug auf deren Kamera

In 17 von 103 Fällen kam es auch an anderen Orten zu Gewalt: Bei Dreharbeiten des NDR an einem Bahngelände im niedersächsischen Rastede schlug am 7. September ein Schrankenwärter einen NDR-Reporter mehrfach mit der Faust ins Gesicht und gegen den Hinterkopf und stieß eine Fernsehkamera von einem Stativ. In Hamburg stieß ein Beteiligter eines Erbschaftsstreits am 28. Oktober 2022 im Flur des Gerichtsgebäudes einen Pressefotografen der Welt zu Boden und zerstörte seine Kamera.

Dramatisch verlief ein Amoklauf am 10. Dezember in Dresden. Ein Mann tötete zuerst seine Mutter und feuerte danach mehrere Schüsse auf ein Bürogebäude ab, in dem unter anderem „Radio Dresden“ seinen Sitz hat. Die Mitarbeitenden blieben unverletzt. Zuvor hatte der Täter versucht, in die Räume des Senders einzudringen. Als ihm dies nicht gelang, nahm er Geiseln in einem nahen Einkaufszentrum und wurde bei deren Befreiung von der Polizei erschossen.

Begleitschutz verhindert Angriffe

Über die 103 gezählten Angriffe hinaus hat RSF mindestens 16 Angriffsversuche dokumentiert, die vereitelt werden konnten – die Mehrheit durch Begleitschutz, einige auch durch die Polizei. 

Viele Journalist*innen, die über die extreme Rechte recherchieren, arbeiten seit Jahren mit Begleitschutz. Regional bieten zivilgesellschaftliche Organisationen an, auch freie Journalist*innen bei ihren Einsätzen zu begleiten.

Die Feindseligkeit gegenüber der Presse drückte sich 2022 auch weiterhin durch Handlungen unterhalb der Schwelle zum physischen, gewaltsamen Angriff aus. Massiv bedrängt, beschimpft und bedroht haben „Querdenken“-Demonstrierende am 1. August 2022 in Berlin etwa den rbb-Reporter Olaf Sundermeyer und sein Team. Die Berichterstattung konnte nur unter massivem Polizeischutz fortgesetzt werden.

Insbesondere weibliche und queere Medienschaffende erhalten regelmäßig Beleidigungen hinsichtlich ihrer Kompetenz oder ihres Aussehens, Vergewaltigungs- und Morddrohungen - auf der Straße ebenso wie per Post, per E-Mail, per Telefon und in den Sozialen Medien.

Outen von Medienschaffenden als „Feinde”

Ein wachsendes Problem stellt das sogenannte „Markieren” von Medienschaffenden dar. Oft wird bei Demonstrationen mit dem Finger auf sie gezeigt, laut ihr voller Name gerufen und gewarnt, sie stellten „eine Gefahr” dar. Journalist*innen werden aus nächster Nähe fotografiert, gefilmt; das Material sowie persönliche Daten werden häufig im Internet veröffentlicht („Doxing“).

In einem Fall verteilten Rechtsextreme auf Corona-Demonstrationen einen „Fahndungsaufruf“ gegen einen freien Journalisten, der dann auch in Telegram-Gruppen der Querdenken-Bewegung kursierte. In der Folge wurde der Journalist von Demonstrierenden vermehrt bedrängt, bedroht und beleidigt. In weiteren Fällen suchten „Querdenker“ freie Journalisten wegen ihrer Berichterstattung an ihren privaten Adressen auf; einer der Betroffenen bekam in der Folge zwei Wochen lang Polizeischutz vor seinem Wohnhaus.

Vorfälle im ersten Quartal 2023

Über die Zahlen für 2022 hinaus hat RSF in den ersten drei Monaten des Jahres 2023 bereits mehr als ein Dutzend Meldungen zu Angriffen auf Journalist*innen und Behinderungen von Pressearbeit insbesondere bei den Klimaprotesten rund um Lützerath registriert.

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Gesetze und Verordnungen zur Überwachung

Im April 2023 legte RSF in Karlsruhe Verfassungsbeschwerde gegen den im Artikel-10-Gesetz ermöglichten Einsatz von Staatstrojanern ein. Mittels dieser Spähsoftware kann der BND in Smartphones und Computer einer Zielperson eindringen und dort auch verschlüsselte Nachrichten abrufen. Im Januar zuvor war eine RSF-Klage dagegen vom Bundesverwaltungsgericht als unzulässig zurückgewiesen worden. Das Gericht argumentierte, die Organisation könne nicht nachweisen, dass sie selbst betroffen ist. Dem hat RSF mehrfach widersprochen: Ihre Kommunikation mit kritischen ausländischen Journalist*innen und Regierungsstellen werde mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgespäht. Außerdem hat die Organisation im Januar 2023 gemeinsam mit der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) und potenziell betroffenen Journalist*innen Verfassungsbeschwerde auch gegen das novellierte BND-Gesetz eingelegt. RSF fordert eine Neuregelung, die die Überwachung von Medienschaffenden als Mittel zur Verfolgung von Verdachtspersonen generell ausschließt. Entfallen sollte der unterschiedliche Schutzgrad für in- bzw. ausländische Journalist*innen sowie die Auswertung von „Maschine-Maschine-Kommunikation“, was beispielsweise die Nachverfolgung von Hotelbuchungen oder Geldüberweisungen ermöglicht.

Ein Mittel der Totalüberwachung von Online- und Telekommunikation via Computer oder Smartphone ist der Einsatz der Spähsoftware Pegasus der israelischen NSO-Group. Als Reaktion startete RSF im Sommer 2022 das Digital Security Lab. An die Fachleute im Berliner RSF-Büro können sich Journalist*innen wenden, die befürchten, dass ihre berufliche Kommunikation online ausspioniert wird. Darüber hinaus fordert RSF eine weltweite gesetzliche Kontrolle für den Export und Verkauf solcher Spyware. Einem Untersuchungsausschuss des EU-Parlaments zufolge hat das BKA eingeräumt, die Spionagesoftware Pegasus sowie die der Firma FinFisher einzusetzen ­− allerdings angeblich jeweils in einer modifizierten gesetzeskonformen Version, die eine komplette Ausspähung verhindere. Dies lässt sich aber nicht überprüfen, da das BKA derartige Informationen als Verschlusssache eingestuft hat. Die Firma FinFisher hat inzwischen den Geschäftsbetrieb eingestellt.

EU plant Chatkontrolle

Mit mehr als zwanzig weiteren zivilgesellschaftlichen Organisationen hat sich RSF im Herbst 2022 öffentlich gegen die sogenannte Chatkontrolle gestellt. Zunächst als Schutz von Kindern vor sexuellem Missbrauch, Internetpornografie oder ähnlichen Übergriffen gedacht, würde sie darüber hinaus eine fast vollkommene Überwachung von privater Kommunikation ermöglichen. Mail-, Hosting- und Messengerdienste sollen verpflichtet werden, auch Ende-zu-Ende-verschlüsselte Inhalte zu durchforsten und bei Verdacht an eine zentrale Stelle weiterzuleiten. Dazu würde eine umfassende Überwachungsinfrastruktur aufgebaut. Betroffen davon wären besonders Berufsgruppen, die auf Vertraulichkeit angewiesen sind, darunter Journalist*innen.

In Deutschland hat das Thema zu heftigen politischen Auseinandersetzungen geführt. Während im Koalitionsvertrag festgeschrieben ist: „Allgemeine Überwachungspflichten, Maßnahmen zum Scannen privater Kommunikation und eine Identifizierungspflicht lehnen wir ab“, ist die Haltung der Bundesregierung in den EU-Gremien noch unklar. 

Der Ausschuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz des EU-Parlaments hat sich im Februar 2023 gegen die meisten Details der geplanten Verordnung ausgesprochen. Dazu gehören insbesondere das technische Unterlaufen der Ende-zu-Ende-Verschlüsselung bei Chatanbietern wie Signal oder WhatsApp, ebenso eine obligatorische  Altersverifikation in App-Stores, die einer digitalen Ausweispflicht gleichkäme und eine anonyme Nutzung unmöglich machen würde. Bei einer Anhörung im Digitalausschuss des Bundestages Anfang März 2023 lehnten alle neun geladenen Expert*innen den Vorschlag der EU-Kommission ab. Diese scheint aber entschlossen, die Verordnung noch vor der Europawahl 2024 umzusetzen. 

Weiter auf der politischen Tagesordnung steht die Vorratsdatenspeicherung. Im September 2022 erklärt der Europäische Gerichtshof (EuGH) das bundesdeutsche Gesetz für die anlasslose Massenspeicherung von Verbindungs- und Standortdaten für nicht rechtmäßig; die Speicherpflicht ist seit einigen Jahren aufgrund mehrerer Klagen ausgesetzt. Erlaubt ist jedoch laut EuGH, anlassbezogen Daten für einen definierten Zeitraum gezielt zu speichern. 

Der Digital Services Act 

Neben dem European Media Freedom Act stellt die Implementierung des europäischen Gesetzes über digitale Dienste (Digital Services Act, DSA)  eines der umfassendsten Vorhaben zur Medienregulierung in der EU und in Deutschland dar. Es ist seit dem 16. November 2022 in Kraft und gilt in allen EU-Mitgliedsstaaten ab dem 17. Februar 2024. Durch die Umsetzung des DSA sollen illegale Inhalte auf Online-Plattformen schneller entfernt, die Grundrechte von Nutzer*innen im Internet umfassender geschützt und digitale Plattformen effektiver bei der Erfüllung ihrer Sorgfaltspflichten beaufsichtigt werden.

So sieht das Gesetzespaket bessere Mechanismen zum Schutz der Meinungsfreiheit der Nutzer*innen vor: Es soll verbesserte Möglichkeiten geben, gegen Moderationsentscheidungen der Online-Plattformen Beschwerde einzulegen. Neben vorhandenen Beschwerdewegen über die Plattformen sollen auch unabhängige, externe Beschwerdemechanismen geschaffen werden. Gleichzeitig werden den verschiedenen Online-Diensten mehr Transparenz- und Rechenschaftsverpflichtungen auferlegt, die sich an ihrer Rolle, Auswirkung und Größe orientieren. Sehr große Online-Plattformen wie Facebook, Instagram, WhatsApp, Twitter, TikTok und Google werden dazu verpflichtet, systemische Risiken zu identifizieren und zu beheben, die sich aus der Manipulation ihrer Dienste ergeben und die Auswirkungen auf den demokratischen Diskurs, auf Wahlprozesse und die öffentliche Sicherheit haben. Ein besonderes Element des DSA liegt in der neu geschaffenen Aufsichtsstruktur: Die Europäische Kommission hat die Aufgabe, sehr große Plattformen so zu beaufsichtigen, dass diese ihren Verpflichtungen nachkommen. Die Kommission kann eingreifen, hohe Strafen verhängen und dazu zwingen, Zugang zu Algorithmen zu gewähren.

In Zusammenarbeit mit der Kommission sollen zudem in den EU-Mitgliedstaaten sogenannte Koordinatoren für digitale Dienste (Digital Services Coordinators) den DSA unabhängig überwachen und durchsetzen. In Deutschland sind die Vorbereitungen dafür gestartet. Reporter ohne Grenzen hat im Februar 2023 mit zwölf zivilgesellschaftlichen Organisationen in einem offenen Brief die wichtigsten Eckpunkte für eine starke Plattformaufsicht zusammengefasst. Dazu zählen die Gewährleistung einer wirtschaftlichen und staatlichen Unabhängigkeit der Behörde, die enge und kontinuierliche Einbindung von zivilgesellschaftlicher sowie wissenschaftlicher Expertise und die Schaffung einer zentralen Anlaufstelle für Beschwerden und Auskunftsersuchen.

European Media Freedom Act 

Der Europäische Rechtsakt zur Medienfreiheit (European Media Freedom Act, EMFA) befindet sich derzeit noch in der Beratung. Eine Vermittlung („Trilog”) zwischen der Kommission, dem Parlament und dem Rat der Europäischen Union steht deshalb an. RSF hat eine Stellungnahme abgegeben und setzt sich dafür ein, dass gemeinsame europäische Standards zum Schutz der Medienfreiheit und der redaktionellen Unabhängigkeit geschaffen werden. Es sollte sichergestellt werden, dass Journalist*innen unabhängig arbeiten können und dass Herausgeber*innen oder Eigentümer*innen keinen Einfluss auf redaktionelle Entscheidungen nehmen, also etwa die Veröffentlichung missliebiger Artikel blockieren. Zur Absicherung des europäischen Informationsraums gegen Desinformation sollte ein reziproker Schutzmechanismus geschaffen werden, bei dem alle Medienanbieter gleich behandelt werden, unabhängig von ihrem Sitzland. So würde verhindert, dass autoritäre Regime ungehindert in der EU Propaganda verbreiten können, in ihrem eigenen Land aber keine unabhängigen Medien zulassen. Medien, die gewisse Standards im Hinblick auf Eigentümertransparenz, aber auch im Hinblick auf redaktionelle Verfahren einhalten und somit nachweislich eine professionelle journalistische Arbeit gewährleisten, sollten vor Löschungen oder Sperrungen ihrer Inhalte auf Internetplattformen in besonderer Weise geschützt werden.

Der Entwurf der Kommission geht in die richtige Richtung, sollte aber noch verbessert werden. Leider tritt insbesondere Deutschland auf europäischer Ebene bremsend auf und setzt sich dafür ein, dass die Verordnung gesplittet und zum Teil lediglich als Richtlinie verabschiedet wird, deren Regelungen nicht unmittelbar gelten, sondern in den einzelnen Mitgliedsstaaten erst in nationales Recht umgesetzt werden müssen. Eine europäische Harmonisierung von Medienfreiheit und redaktioneller Unabhängigkeit würde damit in weitere Ferne rücken, was angesichts der dramatischen Lage der Pressefreiheit in einigen osteuropäischen Ländern fatal wäre.

Cybersicherheitsstrategie ohne gesetzliche Grundlage 

Anlass zur Sorge bietet weiterhin die Cybersicherheitsstrategie der Bundesregierung, die 2021 für fünf Jahre beschlossen wurde und eine Ausweitung der Befugnisse für Sicherheitsbehörden vorsieht. Die schwarz-rote Bundesregierung beabsichtigte unter anderem die „Entwicklung technischer und operativer Lösungen für den rechtmäßigen Zugang zu Inhalten aus verschlüsselter Kommunikation (...)”, also eine Umgehung von Ende-zu-Ende-Verschlüsselung mittels Hintertüren, die die IT-Sicherheit aller Nutzer*innen erheblich schwächen würde. RSF sieht insbesondere die Vertrauenswürdigkeit digitaler Kommunikationsmittel nach wie vor bedroht, auf die Medienschaffende und ihre Quellen im Alltag angewiesen sind. Hinzu kommen Befugnisse zur aktiven Cyberabwehr und der Ausbau der Zentralen Stelle für Informationstechnik im Sicherheitsbereich (​​ZITiS), bislang ohne eine gesetzliche Grundlage. Zwar soll diese Grundlage geschaffen werden, jedoch kritisiert RSF die immer weiter vorangetriebene Ausweitung der behördlichen Überwachungsbefugnisse ohne Prüfung einer tatsächlichen Notwendigkeit sowie Effektivität und Berücksichtigung einer ganzheitlichen Auswirkung auf Grund- und Menschenrechte. Insbesondere zeigt sich, dass der Gesetzgeber bei einem Mehr an Befugnissen für Sicherheitsbehörden es versäumt hat, eine angemessene Kontrolle sicherzustellen. So verwiesen Medienberichte im März 2023 darauf, dass das Bundeskriminalamt (BKA) und ZITiS bereits seit anderthalb Jahren an einem „Live-Zugang” zu verschlüsselten Smartphones arbeiten − ohne Kenntnis der Bundesregierung und entgegen dem Koalitionsvertrag. RSF begrüßt das Vorhaben der Ampel-Koalition, Sicherheitsgesetze auf ihre Auswirkungen und Effektivität hin zu evaluieren. Die angedachte „Überwachungsgesamtrechnung” sollte dafür zumindest Überwachungsbefugnisse der Behörden auf Landes- und Bundesebene gleichermaßen berücksichtigen. Bis dahin sollten einzelne Behörden keine weiteren Überwachungsbefugnisse erhalten, die derzeit kaum demokratisch kontrollierbar sind.

Whistleblowerschutz noch immer nicht gesichert 

Bereits Ende 2021 hätte die Bundesregierung die EU-Richtlinie zum Whistleblowerschutz umsetzen müssen. Im Dezember 2022 verabschiedete der Bundestag ein entsprechendes Gesetz, das jedoch im Bundesrat von unionsregierten Ländern wieder gestoppt wurde. Das EU-weit gültige Ziel: Wer Korruption, Missstände oder Betrug meldet, soll besser geschützt werden, sowohl in Behörden als auch in Unternehmen. Bereits der ursprüngliche deutsche Gesetzesentwurf war teilweise als zu wenig hilfreich kritisiert worden: RSF hielt die Anforderungen für zu hoch, die regeln, wann Informant*innen mit ihrem Verdacht oder ihrem Wissen an Medien herantreten dürfen. Dadurch werde die Zusammenarbeit von Investigativjournalismus und Hinweisgebenden vor allem bei Wirtschaftskriminalität und illegalen Geheimdienstaktivitäten erschwert. Kritisiert wird auch die Verpflichtung, dass Informant*innen sich zunächst an nicht-öffentliche interne oder externe Meldestellen wenden müssen. Ebenso ist die Weitergabe als vertraulich oder geheim eingestufter Dokumente kaum geschützt.

Bereits Mitte März 2023 unternahmen die Regierungsfraktionen einen neuen Anlauf, die EU-Richtlinie umzusetzen und dabei teilweise den Bundesrat zu umgehen. 

Digitalstrategie ohne die Zivilgesellschaft 

Mit einer eigenen Digitalstrategie will die Ampel den von der Vorgängerregierung vernachlässigten digitalen Aufbruch Deutschlands voranbringen. Im September 2022 legte sie ein entsprechendes Papier vor, das im Bundestag diskutiert wurde. Es geht unter anderem um Cybersicherheit, Plattformregulierung, Open Data, eGovernment. RSF kritisiert, dass weder Internetfreiheit noch Informations- und Pressefreiheit eine wesentliche Rolle spielen und dass konkrete Ansätze zum Kampf gegen Hass, digitale Gewalt und Desinformation fehlen. Die Zivilgesellschaft, ihre Ideen und Lösungsansätze bleiben weitgehend außen vor – was sich erneut beim Digitalgipfel der Bundesregierung im Dezember 2022 zeigte. 

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Gerichtsurteile und rechtsmissbräuchliche Klagen (SLAPP)

Mächtige Akteure überziehen einzelne Journalist*innen oder Medienhäuser mit Drohungen und Zivilklagen, um sie einzuschüchtern. Genannt wird dies SLAPP, kurz für Strategic Lawsuits Against Public Participation. Oftmals finanzstarke Unternehmen reichen Zivilklagen ein, die oft unbegründet sind oder sich an Formfehlern aufhängen; ihre Anwälte versuchen sogar, Berichterstattung bereits im Vorfeld gänzlich zu verhindern. Freie Journalist*innen und kleinere Zeitungsverlage oder alternative Publikationen ohne finanzielle Rücklagen sind besonders gefährdet. SLAPP-Klagen bewegen sich dabei in einem Spannungsfeld von legitimem Rechtsgebrauch und offenkundigem Rechtsmissbrauch.

In der EU ist derzeit eine Richtlinie gegen Einschüchterungsklagen in Vorbereitung, deren Erarbeitung RSF unter anderem im Rahmen des zivilgesellschaftlichen NO-SLAPP-Bündnisses in Deutschland und auf EU-Ebene begleitet. Ziel ist es, dass offenkundig unbegründete Klagen frühzeitig von nationalen Gerichten abgewiesen werden können. RSF beobachtet, dass Journalist*innen vor allem grenzüberschreitend mit SLAPP von Unternehmen bedroht werden, die politische Interessen durchsetzen wollen − insbesondere aus Ländern wie Bulgarien oder Rumänien, in denen die Rechtsstaatlichkeit schwach ausgeprägt ist. Deswegen begrüßt RSF, dass die geplante EU-Richtlinie bei grenzüberschreitenden Klagen auch in Deutschland greifen und bestehende zivilrechtliche Lücken schließen würde. Zudem empfiehlt sie den Mitgliedstaaten, auch strafrechtliche Lücken zu schließen, deren Regulierung nicht in der EU-Kompetenz liegt. Der Richtlinien-Entwurf sah ursprünglich eine vorgeschaltete Instanz vor, die prüfen sollte, ob eine Klage ernsthaft oder missbräuchlich ist, um sie gegebenenfalls einzustellen – wobei alle Kosten bei den Klägern verbleiben sollten. Auch Schadensersatzansprüche waren vorgesehen. Solche Verbesserungen für grenzüberschreitende Klagen wurden im Frühjahr 2023 nach einem Kompromissvorschlag des Europäischen Rates zurückgenommen. 

Auch jenseits von SLAPP-Klagen stehen Gerichte nicht immer auf Seiten der Pressefreiheit. Am deutlichsten wurde das beim Urteil im Fretterode-Prozess: Zwei aktive Neonazis, die 2018 im thüringischen Fretterode zwei Journalisten in ihrem Auto überfallen und schwer verletzt hatten, wurden nach etlichen Ermittlungspannen im September 2022 lediglich zu Bewährungsstrafen und Sozialarbeit verurteilt. Die Richterin am Landgericht Mühlhausen sah in dem Überfall keinen gezielten Angriff auf Journalisten und die freie Presse. Das Urteil stieß bundesweit auf scharfe Kritik; es sei nicht nachvollziehbar, dass das Gericht die politische Motivation der Tat nicht berücksichtigt habe, so die Staatsanwaltschaft. 

Das Landgericht Berlin wies im Dezember 2022 eine Klage der Journalistin Lea Remmert auf Schadensersatz und Schmerzensgeld gegen das Land Berlin ab. Remmert war während TV-Aufnahmen bei der 1.-Mai-Demo 2020 in Berlin nachweislich von einem Polizisten ins Gesicht geschlagen worden, so dass sie stürzte und zwei Zähne verletzt wurden. Das Gericht argumentierte, zum einen habe der gewalttätige Polizist nicht ermittelt werden können, zum anderen sei nicht zu klären, ob dieser vorsätzlich oder fahrlässig zugeschlagen oder sie nur unbeabsichtigt getroffen habe. Der Journalistin wurde sogar eine Mitschuld unterstellt, da sie sich im Bereich einer gewalttätigen Demonstration aufgehalten hatte. 

Die Staatsanwaltschaft ließ im Januar 2023 die Redaktionsräume von Radio Dreyeckland in Freiburg sowie die Wohnungen zweier Redakteure durchsuchen und zahlreiche Laptops, Handys und Datenträger beschlagnahmen. Der Grund: Der alternative Sender hatte in einem Artikel auf eine Archivwebsite des seit fünf Jahren verbotenen Portals linksunten.indymedia verlinkt. Konstruiert wird daraus die strafbare Unterstützung eines Vereins, über dessen juristische Existenz und Verbot letztinstanzlich noch nicht entschieden ist. Links auf die Archivartikel von linksunten.indymedia hatten auch mehrere andere Medien gesetzt.

„Durchsuchungen von Redaktionsräumen schrecken davon ab, sich mit vertraulichen Informationen an Journalist*innen zu wenden,“ kritisierte RSF. Die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) hat im März 2023 zusammen mit Radio Dreyeckland Beschwerde beim Landgericht Karlsruhe eingereicht, um ein Präzedenzurteil zu erstreiten.

Aktiv wurde das Landeskriminalamt Niedersachsen bei der Journalistin Andrea Röpke, die bekannt ist für ihre Recherchen und Veröffentlichungen über das rechtsextreme Milieu. Die Abteilung Staatsschutz hatte aufgrund einer Verleumdungsanzeige gegen Röpke durch einen AfD-Politiker ihre Daten gespeichert und auch in einen nationalen Datenpool für „politisch motivierte Straftaten … von erheblicher Bedeutung“ eingestellt. Einer Klage dagegen seitens der Journalistin hat das Verwaltungsgericht Stade stattgegeben.

Behinderungen bei Klimaprotesten

Während in den vergangenen Jahren Übergriffe der Polizei auf Medienschaffende vor allem im Zusammenhang mit Querdenker-Demonstrationen standen, wurden 2022 und im ersten Quartal 2023 Vorfälle vermehrt von Klimaschutzdemonstrationen oder Aktionen von Gruppen wie „Letzte Generation“, „Fridays for Future“ und ähnlichen gemeldet. Journalist*innen, die Aktionen wie das Festkleben auf Straßen dokumentieren, werden zur Seite geschubst, am Fotografieren oder Filmen gehindert. So wurde beispielsweise einer Redakteurin des ND - Der Tag am 18. Mai während einer Aktion gegen die Raffinerie Schwedt im Mai in Brandenburg das Redaktionsequipment mit Laptop und Handy abgenommen. Der Journalist Danni Pilger, der regelmäßig über die Aktionen von Klimaaktivist*innen unter anderem auf Twitter berichtet, wurde im April in Frankfurt am Rande einer solchen Aktion für zweieinhalb Tage in Polizeigewahrsam genommen. Es gibt zahlreiche weitere Beispiele.

Einen frühen Höhepunkt im Jahr 2023 stellen die Vorgänge bei den Protestaktionen in Lützerath dar, als die Polizei das besetzte Dorf am Rande des Braunkohletagebaus geräumt hat. Dabei wurde gewaltsam nicht nur gegen Aktivist*innen und Demonstrierende vorgegangen, sondern auch gegen Medienschaffende, was RSF kritisierte, so wie viele andere Organisationen. Die dju in ver.di beobachtete schon im Vorfeld der Räumung immer wieder gewalttätige Angriffe auf Medienvertreter*innen und eine Behinderung der Pressearbeit durch die Polizei und Sicherheitsunternehmen. Kritisiert wurde auch die Akkreditierungspraxis der Polizei. Ein Presseleitfaden der Polizei Aachen enthielt zahlreiche, nicht gerechtfertigte Einschränkungen von Pressearbeit. In den Medien selbst wurde die eigene Rolle in der aufgeheizten Atmosphäre und die Problematik einer distanzierten Berichterstattung auch kritisch beleuchtet.

Russische Staatsmedien: trotz Verbot weiter empfangbar

Schon kurz nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine, im März 2022, wurde die Verbreitung der russischen Staatsmedien RT und Sputnik durch die EU verboten, und zwar auf allen Empfangswegen: im Web, als Stream, via App, als Podcast etc. Die Sendetätigkeit via Kabel und Satellit war dem deutschen Ableger RT DE schon zuvor von der Regulierungsbehörde ZAK untersagt worden; daraufhin verlor die Deutsche Welle ihre Akkreditierung und Sendemöglichkeit in Russland.

Das europaweite Verbot hatten EU-Vertreter damit begründet, es handele sich bei RT und Sputnik nicht um journalistische Medien, sondern um Waffen des Kremls zur Verbreitung von Kriegspropaganda. Obwohl RSF diese Propaganda ebenfalls ablehnt, übte die Organisation Kritik an den Maßnahmen: Der Einfluss dieser Propaganda auf die europäische Meinungsbildung sei nur gering, die Auswirkungen der EU-Verbote durch russische Gegenmaßnahmen dagegen gravierend – was sich im Laufe der Kriegsmonate dann bewahrheitete: Viele westliche Medien mussten ihre Berichterstattung reduzieren oder auch einstellen. RT verbreitet auch ein Jahr nach seinem Verbot fast ungehindert Propaganda und zwar auf Russisch, Spanisch, Englisch und Deutsch. Denn wie Recherchen von taz und Correctiv ergeben haben, können die Netzsperren relativ leicht umgangen werden, so mit Hilfe einer luxemburgischen IT-Firma und deren Server in Frankfurt am Main. Der kritische Punkt ist die Frage, wer das im Rahmen der EU-Sanktionen verhängte Verbreitungsverbot durchsetzt. Zuständig sind die Mitgliedstaaten; in Deutschland hat die Bundesnetzagentur RT und Sputnik auf ihre Liste der Netzsperren gesetzt. 

RSF hatte nach Verhängung der Sanktionen bereits davor gewarnt, dass der zu Grunde liegende wettbewerbsrechtliche Rahmen kein effektiver Ansatz zur Medienregulierung ist, da in Deutschland der Zoll für die Durchsetzung der Sanktionen zuständig ist, dafür aber keine gesetzliche Kompetenz besitzt. Der Correctiv-Recherche zufolge erklärte sich der Zoll dann in der Tat als nicht zuständig für Medienregulierungsfragen. Die Frage, wer die Einhaltung der Netzsperren und gegebenenfalls von Ausweichadressen kontrolliert, wird deshalb zwischen Finanzministerium, der Staatsministerin für Kultur und Medien, den Landesmedienanstalten, dem Zoll und der Zentralstelle für Sanktionsdurchsetzung hin- und hergeschoben. Somit müssen die Plattformen, ob Youtube, Telekom oder Telegram, die Maßnahmen umsetzen, ohne dass dies kontrolliert wird. Allerdings nutzen die Propagandakanäle auch Spiegelseiten, unterschiedliche Domains oder VPN-Verbindungen in Nicht-EU-Ländern. Die Inhalte werden darüber hinaus in pro-russischen Chatkanälen beworben. 

Trotz dieser Umgehungsstrategien sind die Zugriffszahlen auf RT stark zurückgegangen. Der EuGH hat inzwischen das erst- und einmalige Verbot eines kompletten Senders in Europa legitimiert: Bei Kriegspropaganda zur Unterstützung eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges sei die Beschränkung der Meinungsfreiheit verhältnismäßig.

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Medienvielfalt unter Druck

Die Medienvielfalt in Deutschland war 2022 anders als in den vergangenen Jahren weniger davon bedroht, dass Tageszeitungen zusammengelegt oder geschlossen worden wären. Massive Auswirkungen hatten aber die Entscheidungen großer Verlagshäuser, Zeitschriften einzustellen, sowie Skandale im öffentlich-rechtlichen Rundfunk (ÖRR).

Öffentlich-rechtlicher Rundfunk: geprägt von Skandalen

rbb-Skandal – dieses Schlagwort prägte ab Sommer das Medienjahr 2022. Und es rückte Fehlverhalten auch in anderen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ins Blickfeld, insbesondere beim NDR und BR. Das erschütterte Vertrauen in den ÖRR, und das zögerliche Verhalten der Politik bei der Reformdebatte hat Auswirkungen auf die Rundfunkfreiheit.

Insbesondere beim Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) hat die Affäre Schlesinger um die Verschwendung von Gebührengelder, Vorteilsnahme und Vetternwirtschaft finanzielle Folgen für Programm und Belegschaft, vor allem für die freien Mitarbeiter*innen. Beim Publikum zerstören zudem überhöhte Intendantengehälter das Vertrauen. Insbesondere Reporter*innen von rbb und BR berichteten im Sommer 2022 davon, dass sie bei Drehs und Interviews draußen von Bürger*innen deshalb kritisiert oder angepöbelt wurden.

Der neue bundesweite Medienstaatsvertrag (MStV), der am 01. Juli 2023 in Kraft treten soll, sollte ursprünglich eine Strukturreform der ÖRR beinhalten. Er nimmt nur am Rande Bezug auf die Skandale; nachjustiert wurde durch die Einführung einheitlicher Compliance-Regelungen für ARD, ZDF und DLR. Gestärkt werden auch die Aufsichtsgremien, doch Diversität ist dort kaum verwirklicht: Vertreter*innen der Zivilgesellschaft sind unterrepräsentiert, Publikumsvertreter*innen weiterhin nicht vorgesehen. Mehrere Ministerpräsident*innen und Dutzende Staatssekretär*innen und Minister*innen sitzen persönlich in den Rundfunkgremien.

Kostendruck und Stellenkürzungen bei Printverlagen

Seit Anfang 2023 kündigten die Konzerne Bertelsmann, Springer und Burda massive Stellenkürzungen sowie Einstellung und Verkauf von Magazinen an. Im Februar verkündete Bertelsmann-Chef Thomas Rabe das Aus für seinen Hamburger Verlag Gruner & Jahr und für mehr als  20 Zeitschriften. Sie sollen entweder eingestellt oder verkauft, 700 Stellen sollen abgebaut werden. Wenig später erklärte Springer SE, dass der Konzern in den kommenden drei Jahren 100 Millionen Euro mehr erwirtschaften will – vor allem durch Sparmaßnahmen in den Printredaktionen von BILD und WELT

Insgesamt leidet die Presse unter massiven Kostensteigerungen: Die Papierpreise haben sich verdoppelt, auch Druckfarben und -platten sind massiv teurer geworden. Der gestiegene Mindestlohn gilt auch für das Zustellpersonal. Die Funke Mediengruppe hat im März 2023 deshalb die Zustellung ihrer Ostthüringer Zeitung in ländlichen Regionen eingestellt, in denen der weite Weg von Briefkasten zu Briefkasten diese unrentabel macht. Die Leserschaft wird dort auf digitale Angebote bei reduziertem Preis umgestellt, ihr werden dafür Schulungen angeboten. 

Die Werbeeinnahmen sind weiter rückläufig. Zwar sieht der Koalitionsvertrag eine finanzielle Unterstützung der Presse vor, aber bisher wird über die konkrete Ausgestaltung noch nicht einmal diskutiert. Angesichts der Krise der Printzeitung und der Gefahr einer schrumpfenden Medienvielfalt wird seit Jahren die steuerliche Förderung von gemeinnützigem Journalismus gefordert. Diese einzuführen, ist ein noch uneingelöstes Versprechen im Koalitionsvertrag. 

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Journalist*innen im Exil

Aus den zerstörten Gebieten in der Ukraine, aus Russland und aus Belarus mussten viele Medienschaffende ins Exil gehen. Ziel vieler russischen Oppositionsmedien ist Berlin mit einer großen russischen Community. Doch derzeit sind die Mitarbeitenden der meisten Exil-Redaktionen über mehrere Länder verstreut. Um geflohenen Journalist*innen kurzfristig und schnell helfen zu können, hat RSF im März 2022 zusammen mit der Rudolf Augstein Stiftung und der Schöpflin Stiftung den European Fund for Journalism in Exile (JX Fund) ins Leben gerufen. Mit Sitz in Berlin dient er als Anlaufstelle und bündelt Hilfsangebote. Bislang konnten über 50 Exilmedien mit rund 1.400 festen Mitarbeiter*innen aus Russland, Belarus und der Ukraine europaweit finanziell gefördert werden.

Nach Deutschland geflohene Medienschaffende brauchen vor allem rechtliche Beratung bei der Registrierung eines neuen Medienunternehmens und strategische Begleitung für den Aufbau neuer Redaktionsstrukturen sowie die Erschließung von Finanzierungsquellen. Schwierig ist die Überwindung bürokratischer Hindernisse in Deutschland. Bei der Visabeschaffung reiben sich viele Antragsteller*innen und ihre Unterstützer*innen zwischen Innen- und Außenministerium auf, auch das Staatsministerium für Kultur und Medien und andere Behörden sind involviert. Für einen Teil der russischen Exil-Journalist*innen wurde inzwischen eine Lösung mit humanitären Visa gefunden; für bedrohte belarussische Kolleg*innen steht sie noch aus. RSF fordert, Journalist*innen in das derzeit erarbeitete Gesetz zur Fachkräfteeinwanderung einzubeziehen, die Anforderungen an eine formale Ausbildung zu senken und geforderte Einkommensverhältnisse an die Honorare in den Medien anzupassen.

Trotz der widrigen Umstände versuchen die meisten geflüchteten Journalist*innen, möglichst schnell wieder zu berichten. Über YouTube-Videos, Podcasts, Longreads, Telegram, Radio und andere Kanäle erreichen sie weiter viele Millionen Menschen in ihren Herkunftsländern. Dieses Engagement ist einer Umfrage des JX Funds unter Betroffenen zufolge aber auch begleitet von Unsicherheit, psychischen Belastungen und finanziellen Nöten.

Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan bislang gescheitert

Im Chaos des Nato-Rückzuges im August 2021 wurden nur sehr wenige bedrohte Medienmitarbeiter*innen aus Afghanistan evakuiert. Der Koalitionsvertrag vom November 2021 versprach daher, die Regierung „werde diejenigen besonders schützen, die… sich für Demokratie und gesellschaftliche Weiterentwicklung eingesetzt haben“ – dazu zählen auch Journalist*innen. Doch seither stockt das Aufnahmeprogramm, RSF fordert eine zentrale Koordinierungsstelle, einen verlässlichen Zeitplan, die Einbeziehung von Medienschaffenden in Drittstaaten sowie die Ausstellung humanitärer Visa für besonders Gefährdete.

Mangelnde Transparenz beim Auswahlverfahren, komplizierte Online-Tools, bislang nicht eingehaltene Zusagen über die Aufnahme von 1.000 Personen pro Monat machen es NGOs wie RSF fast unmöglich, Hilfsanfragen zu bearbeiten und Evakuierungen in Gang zu bringen. Die Lage bedrohter Menschen in Afghanistan und den Anrainerstaaten ist fast hoffnungslos zu nennen; bis April 2023 ist noch niemand  im Rahmen des staatlichen Programms nach Deutschland gekommen. Im März 2023 wurde das Programm zudem vom Außenministerium wegen Betrugsvorwürfen vorübergehend ausgesetzt.

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