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Ukraine

Rangliste der Pressefreiheit — Platz 79 von 180
Ukraine 11.04.2023

Front-Verbot für Medienschaffende

Medienschaffende dürfen Orte im Frontbereich nicht mehr betreten.
Solche Bilder könnten bald der Vergangenheit angehören: Die Ukraine schränkt den Zugang zur Front für Medienschaffende ein. © Associated Press | Mstyslav Chernov

Ob das zurückeroberte Makijiwka, Bohdaniwka bei Kiew oder das schwer umkämpfte Bachmut: 52 Städte und Dörfer an der Front in der Ostukraine sind seit Ende März 2023 für Medienschaffende gesperrt. Die Siedlungen lägen nun in einer roten Zone, welche Journalistinnen und Journalisten nicht mehr betreten dürfen, informierte am 19. März 2023 das Operative Kommando Ost, eines von vier regionalen Streitkräftekommandos der ukrainischen Armee. Auch in der Südukraine wurde eine rote Zone eingerichtet: Dort ist Medienschaffenden der Zugang zu sämtlichen Häfen, militärischen Objekten, wiedereroberten Gebieten und Grenzzonen verboten. Dies verkündete das Militärkommando Süd am 20. März 2023.

„Wir halten die neuen Regeln für übertrieben", erklärte Christian Mihr, Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen (RSF). „Sie machen die Berichterstattung von der Front praktisch unmöglich.“ Die ukrainische Regierung müsse gewährleisten, dass Medienschaffende weiterhin aus erster Hand über den russischen Krieg gegen die Ukraine berichten könnten.

Ampel-Modell schränkt Berichterstattung ein

Grundlage für die Einrichtung der Sperrzonen ist eine Änderung der Vorschriften für Berichterstattende im Kriegsgebiet vom 27. Februar 2023. Dieser zufolge müssen die vier militärischen Regionalkommandos das Gebiet in ihrer Zuständigkeit jeweils in eine rote, gelbe und grüne Zone einteilen. Das Betreten der roten Zone ist Medienschaffenden verboten. In der gelben Zone ist Berichterstattung nur in Begleitung eines Presse-Offiziers – oder eines anderen vom Militär zugeteilten Begleitenden – erlaubt. In der grünen Zone darf ohne Einschränkungen journalistisch gearbeitet werden.

Die neuen Regeln zielten nicht auf eine Behinderung der Arbeit von Journalistinnen und Journalisten, versicherte Natalija Humenjuk, Sprecherin des Militärkommandos Süd. Stattdessen sollten sie die journalistische Tätigkeit „unter Berücksichtigung der Situation und der Bedürfnisse der Armee organisieren". Die Einteilung der Zonen werde mit Blick auf die Entwicklungen an der Front wöchentlich überprüft. In Ausnahmesituationen sei das Betreten der roten Zone weiterhin möglich: Medienschaffende könnten in „Fällen, die eine sofortige Berichterstattung erfordern“ Zugang beantragen. Die Anträge würden umgehend geprüft.

Zusätzlich führt das Militär neue Pressekarten für Medienschaffende im Kampfgebiet ein. Die bisher unbegrenzt geltenden Akkreditierungen, welche im vergangenen Jahr ausgestellt wurden,  sind nur noch bis zum 1. Mai 2023 gültig. Die neuen Akkreditierungen müssen beantragt und alles sechs Monate erneuert werden. Medienschaffenden, die gegen die neuen Regeln verstoßen, droht der Entzug der Akkreditierung oder deren vorübergehende Aussetzung.

„Inakzeptable Einschränkung journalistischer Arbeit“

Ukrainische Medienschaffende kritisieren die neuen Regeln scharf. Das Zonen-Modell mache die Berichterstattung von der Front faktisch unmöglich, protestierte Oksana Romanjuk, Vorsitzende des Institute of Mass Information (IMI). Die Einteilung der Zonen sei logisch nicht nachvollziehbar: Städte unter russischem Beschuss seien grünen Zonen zugeteilt worden, während weitgehend ruhige Ortschaften sich in einer roten Zone wiederfänden. So ist etwa die ostukrainische Stadt Snihuriwka künftig für Medienschaffende tabu, obwohl sie 40 Kilometer von der Front entfernt liegt. Große Gebietshauptstädte wie Mykolajiw und Cherson, in denen ukrainische Medien weitgehend ohne Einschränkungen arbeiteten, dürfen künftig nur noch in Begleitung von Presseoffizieren betreten werden.

Mediaruch, ein Zusammenschluss ukrainischer Medien, Nichtregierungsorganisationen und Journalistinnen und Journalisten, verurteilte das Zonen-Modell als „inakzeptable Einschränkung journalistischer Arbeit“. Medienschaffende müssten wieder Zugang zur Front bekommen. Zudem verfüge die Armee nicht über genug Presse-Offiziere, um alle Berichterstattende und Film-Teams in den gelben Zonen zu begleiten. Die Nationale Journalistengewerkschaft der Ukraine (NUJU)  forderte eine Überarbeitung des neuen Regelwerks.

14 ukrainische Frontberichterstattende kritisierten in einem Video auf Facebook die angebliche Existenz einer Liste privilegierter Medien, deren Journalistinnen und Journalisten weiterhin aus den roten Zonen berichten dürften. Dabei soll es sich um Medienschaffende reichweitenstarker Fernsehsender handeln, die Teil des staatlichen Fernsehmarathons sind, einem gemeinsamen Nachrichtenprogramm mehrerer ukrainischer Sender, das seit dem russischen Großangriff rund um die Uhr läuft.

Ukrainische Presseverbände drängten in den vergangenen Monaten verstärkt auf neue Regeln, um die Kommunikation zwischen Armee und Journalistinnen und Journalisten zu verbessern. Unter anderem hatten sie eine Task Force für Fragen der Kriegsberichterstattung im Präsidentenbüro vorgeschlagen. Auch das nun eingeführte Zonen-Modell geht auf eine Idee der Presseschaffenden zurück. Dieses sah in seiner ursprünglichen Fassung die Einrichtung roter Zonen allerdings nur in Ausnahmefällen vor. Von offizieller Seite gab es keine Rückmeldung zu den Vorschlägen. Stattdessen rief das ukrainische Verteidigungsministerium zu zurückhaltender Berichterstattung auf. Das Präsidialamt übte Druck aus, um die Kommunikation zwischen Armee und ausländischen Medienschaffenden stärker zu kontrollieren.

Befehl 73 regelt die Arbeit Medienschaffender im Kampfgebiet

Grundlegende Regeln zur Arbeit der Medienschaffenden unter dem Kriegsrecht hatte Armeechef Walerij Saluschnyj am 3. März 2022 im Befehl 73 festgelegt: Demnach benötigen ukrainische und ausländische Medienschaffende für die Berichterstattung im Kriegsgebiet zwingend eine Akkreditierung des Verteidigungsministeriums. Zu dieser gehört eine umfangreiche Liste von Daten, die nicht veröffentlicht werden dürfen. Dabei handelt es sich um strategische Informationen, die Moskau Rückschlüsse auf die ukrainische Taktik ermöglichen könnten. So sind beispielsweise Fotos und Videos von ukrainischem Kriegsgerät ebenso untersagt wie Aufnahmen, die den Standort ukrainischer Einheiten verraten könnten.

Die Akkreditierung verpflichtet Berichterstattende zu einer engen Abstimmung mit dem Militär: Umkämpfte Gebiete dürfen nur mit Erlaubnis der zuständigen Kommandeure betreten werden. Diese legen auch Routen sowie einen verbindlichen Zeitplan für Reisen durch das Kampfgebiet fest. Das Betreten militärischer Anlagen und gesperrter Bereiche ist untersagt. Auf Nachfrage der Armee müssen Videoaufnahmen oder Fotos zur Kontrolle auf Staatsgeheimnisse und sensible Daten vorgelegt werden.

Bei Zuwiderhandlungen kann die Akkreditierung entzogen werden. So verloren im November 2022 sechs ukrainische und ausländische Medienschaffende ihre Akkreditierung, nachdem sie ohne Erlaubnis lokaler Kommandeure aus der zurückeroberten Stadt Cherson in der Südukraine berichteten. Nach ukrainischen und internationalen Protesten erhielten die Medienschaffenden ihre Akkreditierungen zurück.

Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht die Ukraine auf Platz 106 von 180 Ländern.



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