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Afghanistan

Rangliste der Pressefreiheit — Platz 152 von 180
Afghanistan 12.08.2022

Journalismus blutet aus

76 Prozent der Journalistinnen in Afghanistan arbeiten nicht mehr in ihrem Job. Die verbliebenen Fernsehjournalistinnen müssen ihr Gesicht verschleiern. © picture alliance / abaca | Yaghobzadeh Alfred/ABACA

Seit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan am 15. August 2021 ist die Medienlandschaft um mehr als ein Drittel geschrumpft. 39,6 Prozent aller Medien wurden eingestellt. 59,7 Prozent der Medienschaffenden arbeiten nicht länger in ihrem Beruf. Das geht aus einer Erhebung von Reporter ohne Grenzen (RSF) hervor. Besonders betroffen sind Journalistinnen: Drei Viertel von ihnen wurden arbeitslos; in elf Provinzen arbeiten gar keine weiblichen Medienschaffenden mehr.

„Der Journalismus in Afghanistan blutet aus“, sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. „Die Taliban haben zahlreiche Gesetze erlassen, die die Pressefreiheit einschränken und die Verfolgung und Einschüchterung von Medien sowie Journalistinnen und Journalisten begünstigen. Medienschaffende können nur ihre Arbeit machen, wenn die Taliban endlich ihre Repressionen einstellen.“

Vor der Machtübernahme der Taliban gab es 547 Medien in Afghanistan. Ein Jahr später haben 219 ihre Arbeit eingestellt. Von den 11.857 Journalistinnen und Journalisten, die bis zum 15. August 2021 in den Medien arbeiteten, sind jetzt nur noch 4.759 übrig – weniger als die Hälfte. Journalistinnen sind von Arbeitslosigkeit besonders stark betroffen: 76,2 Prozent haben ihren Job verloren oder gaben ihn aus Angst vor den Taliban auf.

Journalistinnen am stärksten betroffen

In elf von 34 afghanischen Provinzen arbeiten nun gar keine Frauen mehr: Badghis, Helmand, Daikundi, Ghazni, Wardak, Nimroz, Nuristan, Paktika, Paktia, Samangan und Zabol. Von den 2.756 Journalistinnen und Medienmitarbeiterinnen, die es vor der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan gab, sind nunmehr 656 übrig. 84,6 Prozent arbeiten in der Region der Hauptstadt Kabul.

Häufig werfen die Taliban Frauen im Journalismus „unmoralisches Verhalten“ vor oder ein Verhalten, „das den Werten der Gesellschaft widerspricht“. Dieser Vorwand dient dazu, Journalistinnen kleinzumachen und sie unter Druck zu setzen, bis sie ihren Beruf aufgeben. Die islamistische Weltsicht hat inzwischen dazu geführt, dass Frauen im Fernsehen ihr Gesicht bedecken müssen.

„Ich habe sieben Jahre lang für Radio Hamseda in der Provinz Takhar gearbeitet. Schon vor der Rückkehr der Taliban bin ich eingeschüchtert und bedroht worden, so wie die meisten Frauen im Journalismus. Aber mit dem Einmarsch der Taliban in unsere Stadt am 8. August hat sich die Lage verschärft“, begründet die Journalistin Bibi Khatera Nejat ihre Flucht ins Exil nach Pakistan. „Als Erstes haben die Taliban unsere gesamte Ausstattung zerstört und den Sender geschlossen. Also bin ich mit meiner Familie nach Kabul geflohen. Als auch dort die Taliban einfielen, haben wir das Land verlassen. Wir sitzen jetzt seit einem Jahr in Pakistan fest – in einer aussichtslosen wirtschaftlichen Situation. Botschaften antworten nicht, wenn wir versuchen Visa zu beantragen, um in ein anderes Land zu kommen. Die internationale Gemeinschaft hat uns vergessen.“

Andere Journalistinnen wollen nicht aufgeben. So wie Meena Habib, die Direktorin von RouidadNews, einer in Kabul ansässigen Nachrichtenagentur, die sie selbst nach dem 15. August 2021 gegründet hat. „Ich wollte mein Land nicht verlassen, ich wollte weiter informieren und das nicht aufgeben, was wir in den vergangenen 20 Jahren geschaffen haben“, sagte sie RSF. „Die Lebens- und Arbeitsbedingungen waren für Frauen immer schon hart, aber jetzt blicken wir in eine ungewisse Zukunft. Diejenigen Journalistinnen, die überhaupt noch arbeiten können, tun das für niedrigste Gehälter. Wir arbeiten mit leerem Magen in einem sehr feindlichen Umfeld – ohne Schutz. Organisationen, die sich in Afghanistan für den Schutz von Medienschaffenden einsetzen, werden von Männern geführt und setzen sich folglich auch nur für Männer ein.“

Tausende Medienschaffende sind arbeitslos

Die Repressionen des Regimes haben beide Geschlechter im Journalismus schwer getroffen. 7.098 Medienschaffende haben ihren Job verloren. Mehr als die Hälfte davon (54,5 Prozent) sind Männer. Von den 9.101 Journalisten, die vor der Rückkehr der Taliban in den Medien arbeiteten, sind 4.962 nicht mehr journalistisch tätig. Dies korreliert mit dem deutlichen Rückgang an Medien als Folge der Unterdrückung, aber auch der tiefen wirtschaftlichen Krise in dem Land.

Die afghanische Medienlandschaft wurde massiv ausgedünnt. Zwar haben sich seit der Rückkehr der Taliban an die Macht vier neue Medien gegründet; dem steht aber die große Zahl an Medien gegenüber, die innerhalb eines Jahres geschlossen wurden: Von den vormals 547 Medien existieren 219 nicht mehr. Am stärksten betroffen sind die Provinzen Balkh, Bamyan, Panshir, Parwan, Takhar, Herat and Faryab (mit einem Rückgang von mehr als 50 Prozent). Die meisten Medien gibt es noch in der Provinz rund um die Hauptstadt Kabul. Mit 133 Medien hatte Kabul vor dem Regimewechsel die vielfältigste Medienlandschaft. Heute gibt es in Kabul noch 69 Medien.

In einigen Provinzen haben Medien ihre Arbeit eingestellt, nachdem sie gezwungen wurden, Musik oder Nachrichten durch religiöse Inhalte zu ersetzen. Hinzu kommt das schwierige wirtschaftliche Umfeld: Internationale oder nationale Geber zogen sich zurück, Anzeigenerlöse fielen weg. Nach Angaben des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen gingen in Afghanistan innerhalb eines Jahres rund 700.000 Jobs verloren. 97 Prozent der Bevölkerung werden bis Ende des Jahres unterhalb der Armutsgrenze leben. Diese Faktoren verstärken die Auswirkungen der neuen drakonischen Vorschriften für Medienschaffende und der Nichteinhaltung des Pressefreiheitsgesetzes.

Pressefreiheit unter der Herrschaft der Taliban

Taliban-Chef Haibatullah Akhundzada erließ am 22. Juli ein neues Dekret, demzufolge es im Islam verboten ist, „Regierungsvertreter ohne Belege zu diffamieren und zu kritisieren“ und „Falschnachrichten und Gerüchte zu verbreiten“. Wer Regierungsmitarbeiter „verleumdet“, arbeite unbeabsichtigt mit dem Feind zusammen und werde „bestraft“, so das Dekret weiter. Diese Ankündigung von Akhundzada, dem Staatsoberhaupt des Islamischen Emirats Afghanistan, zeigt anschaulich, wie weit die Taliban zu gehen bereit sind, um die Pressefreiheit im Land zu unterdrücken.

Schon zuvor hatten Vorschriften, die von verschiedenen Behörden der Taliban erlassen worden waren, journalistische Arbeit erheblich eingeschränkt. Die „Elf Regeln für den Journalismus“, die die Medienbehörde der Taliban-Regierung (Government Media and Information Centre, GMIC) am 19. September 2021 verkündet hatten, hatten für Zensur und die Verfolgung von Medienschaffenden den Weg bereitet. Diesen vage formulierten „Regeln“ besagen etwa, „Angelegenheiten, die einen negativen Einfluss auf die Haltung der Öffentlichkeit haben oder die Moral beeinflussen“, sollten „mit Vorsicht ausgestrahlt oder veröffentlicht werden“. Medien müssten „koordiniert mit dem GMIC detaillierte Berichte anfertigen“. Näher definiert wurden diese „Berichte“ nicht.

Eine weitere Anordnung wurde am 22. November 2021 vom sogenannten Ministerium für Tugend und Unterdrückung des Lasters, das für die Einhaltung der Scharia in der Öffentlichkeit zuständig ist, herausgegeben. Sie besagt, dass Kritikerinnen und Kritiker der Regierung nicht von Medienschaffenden interviewt oder in ihre Fernsehsendungen eingeladen werden dürfen. Am 28. März schließlich verbot das Informations- und Kulturministerium privaten Fernsehsendern, Nachrichtensendungen von BBC, Voice of America und Deutsche Welle in den lokalen Sprachen auszustrahlen.

Während der Taliban-Sprecher und stellvertretende Informations- und Kulturminister Zabihulla Mujahid gegenüber RSF im Februar behauptete, dass das Mediengesetz vom März 2015 immer noch in Kraft sei, verstoßen all diese Verfügungen gegen ebendieses Gesetz.

Gewalt und willkürliche Festnahmen

All diese Vorschriften haben zu einer zunehmenden Zensur und Selbstzensur sowie einer Welle von willkürlichen Festnahmen von Medienschaffenden geführt. Seit dem 15. August 2021 wurden mindestens 80 Journalisten für unterschiedlich lange Zeiträume und teils auf sehr brutale Weise festgenommen, vor allem seit Anfang 2022 zumeist vom Geheimdienst Istikhbarat.

Aktuell sind drei Journalisten in Afghanistan inhaftiert. Die Taliban werfen ihnen vor, die Sicherheit des Landes gefährdet zu haben. Nur einem von ihnen wurde der Prozess gemacht: Der Dichter und Journalist Khalid Qaderi, der für Radio Norroz in Herat arbeitete, wurde am 7. Mai von einem Militärgericht zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Mirza Hassani, der Eigentümer von Radio Aftab in der Provinz Daikondi, wurde am 22. Mai festgenommen, der Reporter Abdul Hanan Mohammadi von der Nachrichtenagentur Pajhwok aus der Provinz Kapisa am 12. Juni. Beide warten in Gefangenschaft auf ihren Prozess.

Seit dem 15. August 2021 hat RSF zudem mindestens 30 Fälle dokumentiert, in denen Medienschaffende während ihrer Arbeit gezielte Gewalt durch die Sicherheitskräfte erfahren haben. Taliban-Sprecher Mujahid beantwortete die diesbezüglichen Fragen von RSF nicht.

Die Vorsitzenden der neuen Journalistenorganisationen, die unter der Herrschaft der Taliban gegründet wurden und Teil der neuen Vereinigung von Journalisten und Medien in Afghanistan sind, betonten derweil, dass sie in ihren Verhandlungen mit der Regierung Fortschritte gemacht hätten. Hafizullah Barakzai, der Vorsitzende des Journalistenrats von Afghanistan, hat die Wirtschaft als das dringendste Problem ausgemacht und sagt: „Insgesamt ist die Zahl der Gewalttaten gegen Medienschaffende zurückgegangen, auch wenn sich die Fälle in den ersten Monaten nach dem 15. August gehäuft haben.“

Der Vorsitzende der Organisation Afghanischer Medien, Abouzar Sarem Sarepole, betonte, dass die Zahlen willkürlich festgenommener Medienschaffender in den Statistiken der Organisationen schwankten, da manche nicht den Grund der Festnahme angäben und sie annehmen, dass einige Journalisten nicht wegen ihrer Arbeit festgenommen worden seien.

Sowohl Barakzai als auch Sarepole gehen nach eigenen Angaben davon aus, dass die Kommission zur Überprüfung von Medienvergehen bald wieder eingesetzt wird und künftig willkürliche Festnahmen und eine Einmischungen der Regierung in die journalistische Arbeit verhindern kann. Die Kommission wurde auf Grundlage des Pressegesetzes von 2015 eingeführt und beschäftigt sich mit Vorwürfen gegenüber Journalistinnen, Journalisten und Medien. Laut dem Gesetz dürfen solche Vorwürfe nur vor ein Gericht gelangen, wenn die Kommission dem zustimmt.

Zia Bumia teilt diesen Optimismus nicht. Er war vor der Machtübernahme der Taliban Mitglied des Afghanischen Journalisten- und Medienverbands. Laut ihm wird die Kommission nicht in der Lage sein, ihrer Aufgabe adäquat nachzukommen. Vor allem werden ihr keine Vertreter und Vertreterinnen der unabhängigen Menschenrechtskommission angehören, die von den Taliban aufgelöst wurde.

Ein Journalist aus Kabul, der für ein nationales Medium arbeitete, berichtete gegenüber RSF unter Zusicherung von Anonymität, dass „die Anerkennung des Pressegesetzes von 2015 ein wichtiger Fortschritt für Medienschaffende in Afghanistan ist“, dies aber nicht reiche, weil sich die Situation derartig verschlechtert habe. Er schilderte weiter: „Die Hälfte aller Medienschaffenden hat das Land verlassen. Die meisten Medien arbeiten unter katastrophalen wirtschaftlichen Bedingungen und werden wohl bald den Betrieb einstellen. Der Druck auf die Medien und die offizielle Zensur sind überwältigend, und in den Provinzen ist die Situation noch schlimmer als in Kabul. Anstatt eines Gesetzes brauchen wir den Willen, Medien zu unterstützen und die Pressefreiheit zu achten – und zwar auf höchster Regierungsebene, vor allem im Informations- und Kulturministerium.“

Größte Evakuierungsaktion in der Geschichte von RSF

Seit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan ist es RSF zusammen mit anderen Akteuren der Zivilgesellschaft gelungen, fast 200 Medienschaffende in Sicherheit zu bringen. Die größte Gruppe erreichte Deutschland: 159 Medienschaffende plus deren Familien. Damit ist die Rettung fast aller Personen abgeschlossen, die im vergangenen Jahr Aufnahmezusagen der deutschen Bundesregierung erhalten hatten. Von 80 besonders gefährdeten Medienschaffenden, die auf einer vom Internationalen RSF-Sekretariat in Paris an die französischen Behörden übermittelten Liste standen, erreichten bislang 25 Frankreich. Die spanische Sektion konnte 12 Medienschaffende aus Afghanistan herausholen. (Alle Zahlen basieren auf dem Stichtag 1. August 2022.)

Zudem leistete Reporter ohne Grenzen finanzielle Unterstützung und half bei Behördengängen, beispielsweise bei Visa-Ersuchen und dem Beantragen von Aufenthaltstiteln. Seit dem 15. August 2021 unterstützte das Internationale Sekretariat in Paris 152 Mal. Darauf entfielen:

  • 71 Fälle von finanzieller Unterstützung, beispielsweise in Form von Reise- und Lebenshaltungskosten. Durchschnittlich belief sich die Summe pro Kopf auf rund 1.500 Euro pro Medienschaffendem bei einer Gesamtsumme von 99.916 Euro.
  • 81 Fälle von Hilfe im Umgang mit Behörden von Aufnahmeländern

Reporter ohne Grenzen verweist jedoch darauf, dass sich immer noch sehr viele stark gefährdete Journalistinnen und Journalisten in Afghanistan aufhalten. Täglich melden sich neue Medienschaffende mit der Bitte um Unterstützung, um das Land verlassen zu können. Die Bundesregierung muss daher dringend erklären, wie das von ihr angekündigte neue Bundesaufnahmeprogramm ausgestaltet werden soll. 

2012 stand Afghanistan auf der Rangliste der Pressefreiheit auf Platz 150 von damals 179 Staaten. 2021 war das Land dank einer dynamischen Medienlandschaft und der Einführung von Gesetzen zum Schutz von Medienschaffenden auf Platz 122 von 180 Staaten gestiegen. Dieses Jahr ist Afghanistan auf Platz 156 abgerutscht – nachdem fast 40 Prozent aller Medien den Betrieb eingestellt haben und die Hälfte der Journalistinnen und Journalisten das Land verlassen hat.

Diese Veröffentlichung basiert auf Daten, die RSF gemeinsam mit der Vereinigung unabhängiger afghanischer Journalisten (AIJA) zwischen dem 5. und 28. Juli 2022 erhoben hat. Die beiden Organisationen führten schon vor dem 15. August 2021 Umfragen unter Medien in allen afghanischen Provinzen durch. Die Provinz-Büros von nationalen oder internationalen Medien wurden als eigenständige Medien gezählt. Die vier seit der Machtübernahme der Taliban neu gegründeten Medien wurden nicht mit einbezogen. In jedem Medium wurde die Zahl der journalistischen und anderen Mitarbeitenden sowie deren Geschlecht (männlich oder weiblich) erhoben.



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