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Türkei

Rangliste der Pressefreiheit — Platz 165 von 180
Türkei 29.11.2023

RSF verurteilt Festnahme von WDR-Redakteur

Nahaufnahme von Tuncay Özdamar
Tuncay Özdamar © Tuncay Özdamar

Reporter ohne Grenzen (RSF) fordert die türkische Justiz auf, die Anschuldigungen gegen den deutsch-türkischen Journalisten Tuncay Özdamar fallenzulassen. Der Leiter der Redaktion des WDR-Formats Cosmo türkçe war am Morgen des 30. September bei seiner Einreise am Flughafen von Ankara festgenommen worden und musste eine Nacht in Polizeigewahrsam verbringen. Hintergrund waren zwei Tweets aus dem Jahr 2018. Auch wenn der entsprechende Haftbefehl bei einer Anhörung mit der Staatsanwaltschaft am folgenden Tag aufgehoben wurde, ist weiterhin ein Ermittlungsverfahren gegen Özdamar im Gange. Der Redakteur und Reporter ist nun im WDR mit dem Vorfall an die Öffentlichkeit gegangen.

 „Die Festnahme von Tuncay Özdamar zeigt einmal mehr, wie die türkischen Einschüchterungsgesetze missliebige Meinungsäußerungen eindämmen sollen. Wir verurteilen die Willkürjustiz, mit der das Regime versucht, kritische Stimmen zu verängstigen oder an weiteren Recherchen zu hindern – wie im Fall unseres Türkei-Korrespondenten Erol Önderoğlu, der seit vielen Jahren immer wieder vor Gericht steht“, sagt RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. „Die türkischen Behörden müssen umgehend das Ermittlungsverfahren gegen Özdamar und die vielen weiteren betroffenen Medienschaffenden einstellen.“

Details zur Festnahme

Tuncay Özdamar ist seit 2005 Redakteur beim WDR und leitet mittlerweile die Redaktion von Cosmo türkçe. Seit 2003 ist er ausschließlich deutscher Staatsbürger, besitzt aber eine sogenannte MAVI-Card. Das Dokument räumt ehemaligen türkischen Staatsangehörigen in rechtlichen Belan­gen wie dem Aufenthaltsrecht oder der Arbeitserlaubnis die gleichen Rechte wie türkischen Staatsangehörigen ein, einzige Ausnahme ist das Wahlrecht.

 Am 29. September war Tuncay Özdamar von Deutschland nach Ankara geflogen, um Verwandte zu besuchen.  Bei der Einreise am frühen Morgen des 30. September, einem Samstag, wurde er von einem Grenzbeamten bei der Passkontrolle darauf hingewiesen, dass gegen ihn ein Haftbefehl vorliege. Der WDR-Redakteur wurde gebeten, sich bei der Polizeistation im Flughafen zu melden. Dem kam er freiwillig nach.

Dort wurde er festgehalten und von einem Polizisten in Zivil darüber informiert, dass gegen ihn ein Verfahren laufe und er am nächsten Morgen eine Aussage vor der Staatsanwaltschaft tätigen müsse. Nach eigenen Angaben wurde er danach von zwei weiteren Beamten zur ärztlichen Kontrolle gebracht und in der Nähe des Flughafens von Ankara in eine kleine Arrestzelle gesteckt. Dort verbrachte er die Nacht.

Özdamars Anhörung vor der Staatsanwaltschaft Istanbul

 Am Morgen wurde er aus der Arrestzelle geholt, erneut zu einer ärztlichen Kontrolle gebracht und zu einer Videoanhörung ins Gerichtsgebäude des nahegelegenen Ortes Çubuk transportiert. Es folgte eine Videoschalte mit einem Not-Staatsanwalt von der Staatsanwaltschaft Istanbul-Şişli. Da sich der Vorfall an einem Wochenende ereignete, war der eigentliche Staatsanwalt nicht im Dienst. Begleitet wurde Özdamar von seinem Neffen, der in der Türkei als Anwalt tätig ist.

Seine Verhaftung wurde mit dem 1991 eingeführten Anti-Terrorgesetz begründet. Konkret soll er durch zwei Tweets vom 9. September 2018 Personen, welche Terror in der Türkei bekämpfen, zur Zielscheibe gemacht haben. Der WDR-Reporter schrieb damals: „Die türkische Zeitung #Cumhuriyet gilt als eine der letzten Bastionen der Pressefreiheit in der #Türkei. Nach dem Führungswechsel treten nun reihenweise Kolumnisten und Redakteure zurück. Oder sie wurden entlassen. Neuer Chefetage wird Nähe zum Staat und Erdoğan vorgeworfen.“ In einem weiteren Tweet listete er zudem die Namen von 17 Medienschaffenden auf, welche die Zeitung verlassen haben sollen.

Özdamars Post beschäftigte sich damit, dass mehrere Journalistinnen und Journalisten der türkischen Zeitung Cumhuriyet gekündigt hatten, weil sie die neue Leitung der Zeitung als zu regierungsnah empfanden. Bis zu seiner Festnahme im Jahre 2015 war Can Dündar Chefredakteur der Zeitung gewesen. Die türkischen Behörden hatten ihn der Spionage angeklagt und festgenommen. Dündar lebt und arbeitet seit 2016 in Deutschland, bei Rückkehr in sein Heimatland würden dem Regimekritiker 27 Jahre Haft drohen. Mittlerweile arbeitet er auch regelmäßig für Cosmo türkçe.

Ein Ermittlungsverfahren, das Fragen aufwirft

Während der Anhörung erfuhr Tuncay Özdamar, dass das Ermittlungsverfahren gegen ihn erst im März 2022 eingeleitet wurde, obwohl sein Tweet aus dem Jahr 2018 stammt. Er war noch im August und September 2022 durch die Türkei gereist und bei diesem Aufenthalt weder festgenommen noch in irgendeiner Weise über das Ermittlungsverfahren informiert worden.

WDR Cosmo stellte im Nachgang Recherchen an und muss mittlerweile davon ausgehen, dass der Redakteur Opfer eines haarsträubenden Irrtums wurde: Die Istanbuler Staatsanwaltschaft hatte im Jahr 2022 Ermittlungen gegen Personen aufgenommen, die den damaligen Präsidenten des „İstanbul 24. Ağır Ceza Mahkemesi“ („24. Hoher Strafgerichtshof Istanbuls“) auf Social-Media-Plattformen „zur Zielscheibe gemacht“ haben sollen. Dieser damalige Präsident des Gerichtshofs heißt Murat Erten. In einem seiner Tweets vom September 2018 zählt Özdamar auf, welche Medienschaffenden die Redaktion der Zeitung “Cumhuriyet” verlassen haben sollen. Dabei fallen auch die Namen „Murat Sabuncu“ und „Bagis Erten“ – getrennt durch elf Namen dazwischen.

Der WDR muss aktuell aufgrund von Unterlagen aus der türkischen Ermittlungsakte vermuten, dass die türkischen Behörden Twitter danach durchsucht haben, in welchen Tweets die Worte „Murat“ und „Erten“ vorkamen – ohne eine Prüfung der Inhalte auf einen Bezug zum Richter Murat Erten. “Mit Blick auf ein Schreiben aus der Ermittlungsakte ist zu vermuten, dass erst am 2. Oktober 2023 – also mehr als eineinhalb Jahre nachdem das Ermittlungsverfahren gegen Tuncay Özdamar eröffnet wurde und erst zwei Tage nach seiner Festnahme – von der zuständigen Istanbuler Staatsanwalt veranlasst wurde, dass die deutschen Tweets ins Türkische übersetzt werden sollen”, so WDR Cosmo in seiner Berichterstattung zum Fall.

Das sagt der betroffene Reporter

Özdamar sagte aus, nie türkische Anti-Terror-Kräfte in seiner Arbeit angegriffen zu haben, und empfindet seine Festnahme als willkürlich. „Mein Fall zeigt, wie willkürlich und unseriös die türkische Justiz inzwischen arbeitet. Meine Tweets wurden, davon müssen wir ausgehen, zu dem Zeitpunkt der Festnahme nicht einmal ins Türkische übersetzt. Die Staatsanwaltschaft wusste dementsprechend, das muss ich stark vermuten, nicht einmal, was ich überhaupt geschrieben habe. Meine Aussagen in den beanstandeten Tweets haben mit dem Richter Murat Erten, der 2022 Ziel eines Shitstorms in den sozialen Medien war, überhaupt nichts zu tun”, sagte er gegenüber RSF.

Bei der Anhörung mit dem Staatsanwalt wurde der Haftbefehl gegen Tuncay Özdamar aufgehoben, anschließend war er eine Woche bei seiner Familie in Ankara und konnte am 6. Oktober ohne Schwierigkeiten wieder ausreisen. Dennoch hat Özdamar die Ungerechtigkeit tief getroffen: „Ich landete mitten in der Nacht auf einmal hinter Gittern. Ich wusste nicht einmal, warum. Ich wusste auch nicht, was auf mich in den kommenden Tagen wartet. Stundenlang musste ich mit dieser Ungewissheit in der Zelle bleiben.“ Zusammen mit dem Menschenrechtsanwalt Veysel Ok, der auch Deniz Yücel vertreten hat, fordert er, dass das Ermittlungsverfahren eingestellt wird.

Die aktuelle Lage des freien Journalismus in der Türkei

RSF liegen Hinweise auf zwei deutsche Medienschaffende vor, denen 2023 eine Einreise aus beruflichen Gründen in die Türkei verwehrt wurde und die somit an einer Berichterstattung aus dem Land gehindert wurden.

Derzeit befinden sich in der Türkei zudem mindestens 10 Medienschaffende aufgrund ihrer journalistischen Tätigkeit hinter Gittern. Ende 2022 waren es noch 30.

Im laufenden Jahr 2023 wurden rund 40 Medienschaffende aus dem Gefängnis entlassen, darunter 25 kurdische Medienschaffende, die 2022 inhaftiert worden waren. Die Tatsache, dass die Zahl der Inhaftierungen innerhalb eines Jahres so schnell zu- und wieder abgenommen hat, zeigt die weit verbreitete Praxis der Einmischung der Justiz in der Türkei und macht deutlich, dass die Regierung jederzeit zu solchen massiven Verhaftungen übergehen kann, solange die Justiz nicht unabhängig ist.

RSF verurteilt politische Inhaftierungen generell, ebenso die Instrumentalisierung des Justizwesens,wie im Fall von Erol Önderoğlu, dem RSF-Türkei-Korrespondenten, der seit Jahren vor Gericht steht. Alarmierend sind auch die jüngsten Einschränkungen der Pressefreiheit durch Mediengesetze und die Behinderung von Akkreditierungen für Auslandsjournalistinnen und -journalisten in der Türkei, zum Beispiel im Hinblick auf die Berichterstattung über die Erdbeben im Februar .Auch die Instrumentalisierung von Löschanfragen bei Internetplattformen und die Übergriffe aus der Türkei auf Exilreporterinnen und -reporter in Deutschland beobachtet RSF seit Jahren mit großer Sorge.

Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht die Türkei auf Platz 165 von 180 Staaten.



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