Russland 31.10.2019

Gesetz soll Internetzensur auf neue Stufe heben

Live-Übertragung von Präsident Putin auf einem Laptop
© dpa

Am morgigen Freitag (1.11.) tritt in Russland ein Gesetz in Kraft, das es den Behörden ermöglichen soll, die Internetnutzerinnen und -nutzer im Land vom weltweiten Netz abzukoppeln. Reporter ohne Grenzen verurteilt dieses Gesetz als gefährlichen Schritt zur umfassenden Kontrolle und Überwachung der digitalen Kommunikation.

„Dieses Gesetz ist der Versuch, die Internetzensur in Russland auf eine neue Stufe zu heben: Es belegt, dass die russische Führung bereit ist, die gesamte Infrastruktur des Netzes unter politische Kontrolle zu bringen, um bei Bedarf den digitalen Informationsfluss abzuschneiden“, sagte ROG-Geschäftsführer Christian Mihr. „Selbst wenn die neuen Regelungen wohl gar nicht vollständig umsetzbar sind, zeigen sie, wie umfassend die Internetfreiheit in Russland bedroht ist.“

Präsident Wladimir Putin hatte das „Gesetz über das souveräne Internet“ am 1. Mai 2019 unterzeichnet. Offiziell dient es dazu, das störungsfreie Funktionieren des russischen Netzes unabhängig vom weltweiten Internet im Falle einer Krise oder eines Angriffs von außen zu gewährleisten. Dazu schafft das Gesetz die Voraussetzungen dafür, dass die russischen Behörden Teile des Internets für Russland sperren können. Potenziell könnten sie künftig in die Lage versetzt werden, für ganz Russland den Zugang zum Beispiel zu bestimmten Internetprovidern, zum gesamten internationalen oder auch zum innerrussischen Datenverkehr abzuschalten.

Faktisch ist eine der wichtigsten Folgen des Gesetzes, dass es die Kontrolle und Filterung des Datenverkehrs zentralisiert: Künftig sollen dafür nicht mehr wie bisher die Internetprovider, sondern Geheimdienst und Medienaufsicht verantwortlich sein. Die Regierung hofft, verbotene Inhalte und Plattformen auf diese Weise effektiver als bisher blockieren zu können.

Provider müssen Geräte installieren, die der Aufsicht Zugriff geben

Konkret verlangt das Gesetz, dass Internetprovider den russischen Datenverkehr nur noch über Knotenpunkte leiten, die von der Medienaufsicht Roskomnadsor genehmigt wurden, und dass diese Knoten keine Verbindungen zu ungenehmigten Internetprovidern erlauben. Alle russischen Provider und weitere Dienstleister müssen Technik installieren, mit der Roskomnadsor bei Bedarf den Datenverkehr blockieren kann.

Die meisten Internetprovider verfügen derzeit allerdings noch nicht über diese Technik. Sie wird dem Nachrichtenportal RBK zufolge bis Ende des Jahres zunächst im Verwaltungsgebiet Ural getestet. Seit Ende Oktober werden dort bei den „Großen Vier“ – den Telekommunikationsunternehmen Rostelecom, MTS, Megafon und Vimpelcom – sowie bei mehreren kleineren Anbietern entsprechende Geräte installiert und in Intervallen testweise eingeschaltet. Die Tests betreffen zunächst lediglich Festnetzverbindungen; mobiles Internet ist davon bisher ausgenommen.

Roskomnadsor soll den Datenverkehr auf Bedrohungen für Russlands Internetzugang überwachen und den grenzüberschreitenden Datenverkehr eng kontrollieren. Das Gesetz lässt viele technische Fragen offen. Es macht aber deutlich, dass die Regierung den Internetprovidern direkt und ohne gerichtliche Kontrolle Anweisungen erteilen kann und dass die Öffentlichkeit nicht darüber informiert wird, welche Inhalte blockiert werden oder aus welchen Gründen dies geschieht.

Angewendet werden sollen diese Maßnahmen laut Gesetzestext im Falle einer nicht näher definierten „Sicherheitsbedrohung“. Die Entscheidung darüber, was als Bedrohung gilt und wie darauf zu reagieren ist, überlässt es komplett der Regierung.

Außerdem soll laut dem Gesetz ein eigenständiges russisches Domain Name System (DNS) geschaffen werden – sozusagen ein Adressbuch für das Internet, das bestimmt, zu welcher IP-Adresse eine Nutzerin oder ein Nutzer bei einer Adresseingabe geleitet wird. Vom 1. Januar 2021 an sollen Internetprovider verpflichtet sein, dieses nationale DNS zu verwenden. Dies würde den Staat in die Lage versetzen, Anfragen russischer Internetnutzerinnen und -nutzer nach Belieben zu manipulieren, ins Leere laufen zu lassen oder zu falschen Websites zu lenken.

Gesetz verstößt gegen Menschenrechtsstandards 

Mit diesen sehr weit gefassten, schwammig definierten Befugnissen für äußerst weitreichende, intransparente und keiner Kontrolle unterworfene Eingriffe der Regierung verstößt das Gesetz gegen die Maßstäbe an Meinungsfreiheit und Schutz der Privatsphäre, die sich aus Russlands europäischen und internationalen Menschenrechtsverpflichtungen ergeben. Es bedroht die Meinungs- und Medienfreiheit im Internet ebenso wie die Online-Anonymität und schafft neue Möglichkeiten zur Internetüberwachung.

Unklar ist, ob sich die Pläne technisch überhaupt umsetzen lassen. Provider befürchten massive Störungen im Internetverkehr; der Rechnungshof kritisierte die enormen Kosten für das Projekt. Der russische Unternehmerverband warnte, Russland könne nicht ohne Weiteres von den wichtigsten ausländischen Servern abgetrennt werden, über die große Teile des Geschäftsverkehrs russischer Konzerne laufen.

Immer neue Gesetze schränken Medienfreiheit ein

Russland steht auf Platz 149 von 180 Ländern auf der Rangliste der Pressefreiheit. In den vergangenen Jahren wurde dort eine Vielzahl von Gesetzen erlassen, die die Presse- und Meinungsfreiheit erheblich einschränken. So sind Artikel über Homosexualität oder Drogen ebenso verboten wie Beiträge, die angeblich religiöse Gefühle verletzen oder zu Extremismus aufrufen. Anbieter von Kommunikationsdiensten müssen Inhalte von Online-Kommunikation sechs Monate lang auf Vorrat speichern. Sie sind verpflichtet, den Behörden auf Anfrage Daten von Nutzerinnen und Nutzern herauszugeben und dem Geheimdienst beim Mitlesen verschlüsselter Nachrichten zu helfen.

Zudem dürfen Internetdaten russischer Bürgerinnen und Bürger ausschließlich auf Servern innerhalb Russlands gespeichert werden. Als sich das Karriere-Netzwerk LinkedIn weigerte dies umzusetzen, wurde es 2016 gesperrt. Twitter und Facebook wehren sich jedoch immer noch gegen die Anwendung dieses Gesetzes. Gescheitert sind die russischen Behörden bislang mit dem Versuch, den Messenger-Dienst Telegram komplett zu blockieren.

Wende bei der Internet-Kontrolle: Jetzt kommt es auf die großen Konzerne an

Die russische Menschenrechtsorganisation Agora spricht in ihrem jüngsten jährlichen Bericht zur Freiheit des Internets in Russland von einer „fundamentalen Wende“ der Regierungspolitik bei der Kontrolle des Internets. Nachdem sich gezeigt habe, dass sich der Informationsfluss im Netz durch das bloße Sperren von Seiten und die exemplarische Verfolgung einzelner Bloggerinnen und Blogger nicht vollständig kontrollieren lasse, stünden nun die großen nationalen wie internationalen Internetservice-Anbieter im Fokus. Denn erst, wenn sie kooperierten, lasse sich die Kommunikation zwischen den Menschen effektiv überwachen und die Verbreitung unerwünschter Information wirklich verhindern.

Auch vor der kompletten Abschaltung des Netzes schrecken russische Behörden in politischen Krisensituationen nicht zurück. So wurde das mobile Internet in der südrussischen Teilrepublik Inguschetien im Herbst 2018 zeitweise abgeschaltet, als es Proteste gegen die Verschiebung der administrativen Grenze zur Nachbarrepublik Tschetschenien gab. Die großen Mobilfunkanbieter erklärten nach Beschwerden von Nutzerinnen und Nutzern, sie hätten auf Anweisung der Behörden gehandelt. Während der Proteste in Moskau im Juli und August gegen die Nichtzulassung oppositioneller Kandidatinnen und Kandidaten zur Kommunalwahl gab es Berichte über die Abschaltung oder Drosselung des mobilen Internets in zentralen Bezirken der Hauptstadt. Mehrere Mobilfunktunternehmen schalteten dort ihre Basisstationen offenbar auf Anweisung der Behörden ab.

Ende November veröffentlicht ROG einen ausführlichen Länderbericht zur Überwachung und Zensur des Internets in Russland.



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