Deutschland 12.09.2023

Plattformaufsicht könnte Journalisten stärken

Ein Schild mit der Aufschrift: Bundesnetzagentur, für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahn., darunter vier Piktogramme, die die genannten gemeinsam Abbilden.
Hauptsitz der Bundesnetzagentur im Bonner Tulpenfeld. © picture alliance / | Daniel Kalker

Das neue Digitale-Dienste-Gesetz (DDG) soll eine wirksame Aufsicht für die Plattformregulierung in Deutschland schaffen. Das zuständige Bundesministerium für Digitales und Verkehr hat dazu einen Referentenentwurf veröffentlicht, der eine zentrale Beschwerdestelle für alle Internet-Nutzenden bei der Bundesnetzagentur (BNetzA) ansiedelt. Reporter ohne Grenzen (RSF) begrüßt den Entwurf, der zahlreiche Empfehlungen der Organisation aufgreift. In einer Stellungnahme formuliert RSF allerdings noch weitere notwendige Empfehlungen für eine wirkungsvolle und Nutzenden-zentrierte Plattformaufsicht zum Schutz der Meinungs- und Pressefreiheit. Mit dem Digitale-Dienste-Gesetz sollen die europäischen Vorgaben des Digital Services Act (DSA) umgesetzt werden.

“Es ist enorm wichtig, dass der Referentenentwurf zum DDG dem Tauziehen der deutschen Behörden um Zuständigkeiten bei der Plattformaufsicht standhält. Zu viel Bürokratie und Abstimmungszwang hebeln selbst die progressivsten Vorhaben aus. Dieses Schicksal muss der Koordinierungsstelle für digitale Dienste erspart bleiben”, sagte Helene Hahn, Referentin für Internetfreiheit bei Reporter ohne Grenzen. “Wenn uns Grundrechte wie Presse- und Informationsfreiheit wichtig sind, dann brauchen wir eine zentrale und durchsetzungsstarke Behörde, die die Rechte von Nutzerinnen und Nutzern gegen die Macht der Tech-Konzerne effektiv durchsetzt."

Der Digital Services Act ist eines der umfassendsten netzpolitischen Vorhaben zur Plattformregulierung in der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten. Es zielt darauf ab, ein sicheres und verantwortungsvolles digitales Umfeld zu schaffen. Durch die Umsetzung des DSA sollen illegale Inhalte schneller entfernt, die Grundrechte im Internet umfassender geschützt und Online-Plattformen effektiver bei der Erfüllung ihrer menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten beaufsichtigt werden. Der Digital Services Act ist am 16. November 2022 in Kraft getreten und muss in allen EU-Mitgliedsstaaten schrittweise bis spätestens zum 17. Februar 2024 umgesetzt sein. 

RSF hat sich im europäischen Gesetzgebungsprozess mit zahlreichen Empfehlungen eingebracht und die nationale Umsetzung durch politische Fachgespräche aktiv begleitet. Vorschläge dafür, wie eine starke Plattformaufsicht effektiv im Interesse von (Exil-)Journalistinnen und Bloggern umgesetzt werden sollte, formulierte RSF in einem offenen Brief im Februar 2023. 

Journalistinnen und Blogger könnten von neuer Beschwerdestelle profitieren

Bisher haben sich digitale Plattformen weitestgehend selbst reguliert. Bald übernehmen die Aufsicht unabhängige, nationale Koordinierungsstellen für digitale Dienste in Zusammenarbeit mit der Europäischen Kommission. Der DDG-Entwurf benennt als zentrale deutsche Koordinierungsstelle die Bundesnetzagentur. Sie soll kleinere Plattformen im Inland beaufsichtigen und als Beschwerdestelle für alle Internet-Nutzenden fungieren. Bei Zensur von Beiträgen, Accountsperren oder digitalen Angriffen sollen Betroffene in den jeweiligen Ländern zügig und kompetent unterstützt werden. 

Für sehr große Plattformen mit mehr als 45 Millionen monatlichen Nutzenden ist die Europäische Kommission zuständig. Dazu gehören derzeit 17 Dienste wie Instagram, YouTube und TikTok. Auch hier spielen die nationalen Koordinierungsstellen eine zentrale Rolle: Sie sammeln und bereiten entscheidende Fälle und Hinweise vor, die auf “systemische Risiken” auf den Plattformen hindeuten und beispielsweise in mehreren Ländern der EU auftauchen können. Solche Risiken können sich etwa aus dem Design, den algorithmischen Entscheidungssystemen und den tatsächlichen Nutzungsmöglichkeiten der Plattformen ergeben. Sie können damit potenziell Auswirkungen auf den demokratischen Diskurs, auf Wahlprozesse sowie die öffentliche Sicherheit haben. Ein systemisches Risiko kann sich ebenso aus Einschränkungen der Pressefreiheit ergeben. Nach dem DSA sind Plattformen verpflichtet, Risikoanalysen durchzuführen und Probleme angemessen anzugehen. Von dieser neuen Aufsichtsstruktur können alle Medienschaffenden profitieren, insbesondere diejenigen, die im Exil leben und arbeiten. 

Digitale Plattformen und Netzwerke bieten ein enormes Freiheitspotenzial. Sie sind für Medien ein neuer Kanal, um ihre Inhalte zu vermitteln - gerade in Ländern mit eingeschränkter Pressefreiheit. Gleichzeitig werden digitale Dienste systematisch missbraucht, um journalistische Beiträge und ganze Konten von Medien zu sperren und sie so an der kritischen Berichterstattung zu hindern. Angreifende bedienen sich nach Recherchen von RSF invasiver Methoden, die auf politische Hintergründe schließen lassen - von angeblichen Urheberrechtsverletzungen bis zu Versuchen der Accountübernahme. RSF berichtete etwa über 23 Fälle allein aus Vietnam. Unter den Betroffenen sind die in Deutschland lebenden Blogger und Publizisten Bui Thanh Hieu, Nguyen Van Dai und der Betreiber der Nachrichtenseite Thoibao, Lê Trung Khoa. Für ihre Berichte im Sinne der Presse- und Meinungsfreiheit werden sie bis ins Exil verfolgt. Die Probleme auf den Plattformen halten bis heute an.

Videos unabhängiger russischer Exil-Medien, die über den Krieg in der Ukraine berichten, werden häufig auf YouTube gekennzeichnet, blockiert oder eingeschränkt, wodurch ihre Sichtbarkeit und Reichweite eingeschränkt wird. Als Begründung wird hervorgebracht, dass das Material Gewalt darstelle - in Kriegs- und Krisenzeiten jedoch eine notwendige Voraussetzung für eine realitätsnahe unabhängige Berichterstattung. Sonst würden etwa Kriegsverbrechen nicht an die Öffentlichkeit gelangen. Erst kürzlich wandten sich russische Medienschaffende daher in einem offenen Brief an die Big-Tech-Konzerne. Die bisherigen Reaktionen der Dienste werden jedoch dem notwendigen Handlungsbedarf nicht angemessen gerecht.

Solche Fälle zeigen, wie dringend eine zentrale und durchsetzungsstarke Beschwerdestelle in der Plattformaufsicht gebraucht wird, die im Interesse der Medien und aller Nutzerinnen und Nutzer handelt. RSF unterstützt den DDG-Referentenentwurf, der diese Stelle zukünftig bei der BNetzA vorsieht, und empfiehlt, diese zentrale Stelle mit klaren Entscheidungsstrukturen und Ansprechpersonen für Hilfesuchende auszustatten. Die Behörde sollte einen leicht verständlichen Zugang sicherstellen, beispielsweise über mehrsprachige Angebote sowie vielfältige Kommunikationskanäle und Kontaktmöglichkeiten wie Online-Formulare, E-Mail und Telefon. 

Neben der BNetzA erhalten nach dem DDG-Entwurf zwei weitere Behörden erweiterte Zuständigkeiten: Der bzw. die Bundesdatenschutzbeauftragte und die Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz, die beide jeweils in ihren klar abgegrenzten Bereichen Aufgaben im Sinne des DSA übernehmen – beispielsweise bei Risiken des Profilings im Bereich der Online-Werbung oder dem Online-Schutz Minderjähriger. RSF begrüßt die Verteilung der Zuständigkeiten im DDG-Entwurf und appelliert an den Gesetzgeber, keine weiteren Behörden in die Zuständigkeitsstruktur aufzunehmen

Insbesondere lehnt RSF es ab, das Bundesamt für Justiz (BfJ), das bislang für die Durchsetzung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG) zuständig ist, als zuständige Behörde für “soziale Netzwerke” zu benennen. Dies würde zu einer künstlichen Zersplitterung der Zuständigkeiten, zu behördlichen Doppelstrukturen und letztendlich zu Rechtsunsicherheit bei den Hilfesuchenden führen. Zudem unterscheidet der DSA bei der Aufsichtsstruktur nicht zwischen verschiedenen Diensteanbietern, insbesondere nicht zwischen “sozialen Netzwerken” und Online-Plattformen. Das entspricht einer modernen Auffassung der verschmelzenden Geschäftsstrukturen der Dienste, die sowohl soziale Netzwerke als auch Marktplätze sind. Eine Abweichung davon führt unausweichlich zu einer Diskrepanz in der Entscheidungspraxis der Plattformaufsicht. Diensteanbieter könnten die Schwachstelle ausnutzen, um gerichtlich die Zuständigkeiten anzugreifen. Für betroffene Journalisten und alle Nutzerinnen wäre das fatal - die Klärung ihrer Beschwerden würde zum einen durch zusätzlichen Abstimmungsbedarf der Behörden verzögert, zum anderen würde die Klarheit, Vorhersehbarkeit und Gewährung ihrer Rechte gefährdet. Ähnlich verhält es sich mit den Zuständigkeiten der Landesmedienanstalten, die im DDG-Entwurf richtigerweise eingebunden sind, jedoch nicht als Doppelstruktur neben der BzKJ. 

Zustellungsbevollmächtigte Stelle im Referentenentwurf des DDG aufnehmen

Mit dem DDG-Entwurf wird das umstrittene NetzDG abgeschafft, das Hasskriminalität online bekämpfen soll. RSF warnte bereits 2017 davor, dass das NetzDG die Grundrechte auf Presse- und Meinungsfreiheit massiv beschädigen würde, und kritisierte die gesetzlichen Anreize für das Overblocking. Dabei würden Plattformen gemeldete, jedoch legale Inhalte voreilig ohne eine angemessene Prüfung der Sachverhalte sperren, um Bußgeldverfahren zu umgehen. Zu diesem Ergebnis kam auch eine Studie zur Evaluierung des NetzDG der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur in Leipzig aus 2021. 

Mit der Streichung des NetzDG entfällt jedoch auch die Regelung über eine zustellungsbevollmächtigte Stelle. Für Journalistinnen und alle Nutzer der digitalen Dienste und Plattformen, die von willkürlichen Sperren und anderen Angriffen betroffen sind, verschlechtert sich damit der Rechtsschutz. Zustellungsbevollmächtigte können für eine Plattform rechtlich wirksam Erklärungen, Klagen und vergleichbare Schriftstücke entgegennehmen und sind für die formale Annahme und Bearbeitung von Beschwerden verantwortlich. So werden behördliche Verfahren für Betroffene einfacher nachvollziehbar, gleichzeitig werden zivilrechtliche Klagen erfolgversprechender. Die mangelnde bis fehlende Erreichbarkeit der digitalen Dienste für Nutzende ist ein enormes Problem - gerade wenn die Unternehmen ihren Sitz im Ausland haben. Bleiben digitale Dienste und Plattformen bei Angriffen auf Medienschaffende und ihre Accounts untätig, verlieren gerade Exil-Medienschaffende nicht nur ihr Publikum, sondern auch die Möglichkeit, Einnahmen für ihre Berichte zu erwirtschaften.

RSF empfiehlt daher, im DDG-Entwurf eine zustellungsbevollmächtigte Stelle festzuschreiben, die im Interesse der Nutzenden agiert und ihnen neben der neuen, zentralen Beschwerdestelle weitere rechtliche Möglichkeiten an die Hand gibt, um handlungsfähig zu bleiben. Die Eckpunkte des Digitalen Gewaltschutzgesetzes des Bundesministeriums für Justiz sehen eine solche Regelung vor, die RSF ebenso kommentiert hat. Ein weiterer Vorteil wäre die Harmonisierung dieser Regelungen beider Gesetze, um mehr Klarheit auf der Seite von Betroffenen zu schaffen. 

Die vollständige Stellungnahme von RSF mit weiteren Kritikpunkten ist unten abrufbar und auf der Webseite des BMDVs im Rahmen des Konsultationsverfahrens einsehbar



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