Ungarn 26.06.2020

Unabhängiges Nachrichtenportal in Gefahr

Viktor Orbán © picture alliance / Photoshot

Reporter ohne Grenzen (RSF) ruft die Eigentümer des wichtigsten ungarischen Nachrichtenportals Index.hu auf, die Unabhängigkeit der Redaktion zu garantieren. Anlass sind Überlegungen, große Teile der Redaktion in mehrere kleine Firmen auszulagern, um angesichts gesunkener Werbeeinnahmen infolge der Coronavirus-Krise die Kosten zu senken. 

Index gilt als mit Abstand meistgelesenes Nachrichtenportal Ungarns und als wichtigstes Nachrichtenmedium, das trotz aller Angriffe der Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán auf die Pressefreiheit immer noch unabhängig berichtet. Ende März hatte ein Orbán-naher Unternehmer die Hälfte des Unternehmens gekauft, die das Anzeigengeschäft für Index managt. Seitdem mehrten sich die Sorgen um die Unabhängigkeit des Portals.

„Die Index-Redaktion zu zerschlagen, wäre verheerend für die Pressefreiheit in Ungarn“, sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. „Das Management des Portals muss gemeinsam mit der Redaktion Wege zur Kostensenkung finden, die nicht an die Unabhängigkeit dieser wichtigen kritischen Stimme im ungarischen Medienmarkt rühren.“

Redaktion stellt Unabhängigkeitsbarometer auf gelb

Am Sonntagabend (21.6.) veröffentlichte Chefredakteur Szabolcs Dull eine von mehr als 100 Redakteurinnen und Redakteuren unterzeichnete Stellungnahme, in der sie gemeinsam warnten, durch eine geplante Umstrukturierung sei die Redaktion in Gefahr. Zugleich stellte die Index-Redaktion ihr 2018 eingerichtetes Unabhängigkeits-Barometer von grün für „unabhängig“ auf gelb für „in Gefahr“. Hintergrund war der Vorschlag eines externen Beraters, die Redaktion aus Spargründen größtenteils aufzulösen und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in kleinere Firmen auszugliedern.

Index-Geschäftsführer László Bodolai beteuerte am Montag, der Vorschlag sei abgelehnt worden. Gleichzeitig entließ er den Chefredakteur aus seiner Funktion als Mitglied der Geschäftsführung. Am Dienstag trat der Index-Vorstandsvorsitzende András Pusztay zurück.

Anders als vielen anderen Medien in Ungarn ist es Index bislang – trotz mehrerer teils undurchsichtiger Eigentümerwechsel in den vergangenen Jahren – gelungen, seine redaktionelle Unabhängigkeit zu wahren und sich mit regierungskritischer, teils investigativer Berichterstattung ein großes Publikum aufzubauen.

Ende März nun kaufte der Medienunternehmer Miklós Vaszily 50 Prozent an der Vermarktungsfirma Indamedia, die für Index das Anzeigengeschäft betreibt. Vaszily hat schon verschiedene ungarische Medien auf Regierungslinie gebracht, darunter das einst unabhängige Nachrichtenportal Origo.hu. Derzeit ist er unter anderem Vorstandsvorsitzender des regierungsnahen Fernsehsenders TV2. Sein Einstieg bei Indamedia weckte deshalb die Sorge, er könnte Index über den Hebel der Werbeeinnahmen auf Linie bringen. Auch vor diesem Hintergrund läuteten bei der Index-Redaktion jetzt die Alarmglocken, als ein externer Berater seinen Umstrukturierungsplan vorlegte, der als Vertrauter Vaszilys gilt.

Seit Viktor Orbán und seine Fidesz-Partei 2010 an die Regierung gekommen sind, haben sie Ungarns Medienlandschaft Schritt für Schritt unter ihre Kontrolle gebracht. Die öffentlich-rechtlichen Rundfunksender wurden in der staatlichen Medienholding MTVA zentralisiert, zu der auch Ungarns einzige Nachrichtenagentur MTI gehört. Die regionale Presse ist seit dem Sommer 2017 vollständig im Besitz Orbán-freundlicher Unternehmer. Im Herbst 2018 wurden fast 500 regierungsnahe Medienunternehmen in einer Holding zusammengefasst, um ihre Berichterstattung zentral zu koordinieren. Wichtige kritische Medien wie die überregionalen Zeitungen Népszabadság und Magyar Nemzet wurden eingestellt. 

Ausländische Regierungen zur „Entschuldigung“ aufgefordert

Ein Notstandsgesetz anlässlich der Coronavirus-Krise, das Orbán weitreichende Sondervollmachten verlieh, stieß im Frühjahr auch vor diesem Hintergrund auf breite internationale Kritik. Für die öffentliche Verbreitung von Falschmeldungen oder „verzerrten Fakten“ führte das Gesetz Haftstrafen von bis zu fünf Jahre ein. Am 16. Juni beschloss das Parlament in Budapest das Ende des Corona-Ausnahmezustands. Diplomatische Vertretungen Ungarns haben in den vergangenen Wochen mehrere ausländische Medien aufgefordert, sich für angebliche Falschbehauptungen über die Corona-Notstandsregeln zu entschuldigen.

Da solche Äußerungen der betreffenden Medien „sich nunmehr eindeutig als unbegründet erwiesen haben“, wolle er den Medien „die Möglichkeit anbieten, sich wegen der wiederholten Äußerung dieser Behauptungen zu entschuldigen“, schrieb etwa Ungarns Botschafter in Wien in einem „an etliche Redaktionen in Österreich“ gerichteten Brief, der auf der Webseite der diplomatischen Vertretung veröffentlicht wurde. Und weiter: „Diese Entschuldigung schulden Sie nicht nur der gewählten Regierung Ungarns, sondern auch der großen Mehrheit der ungarischen Bevölkerung.“

Ein ähnliches Schreiben vom dortigen Botschafter Ungarns erhielt die Zeitung Tribune de Genève in der Schweiz. In Finnland forderte Orbáns Sprecher zwei Ungarn-Experten zu Entschuldigungen auf, die sich in der Tageszeitung Ilta-Sanomat und im öffentlich-rechtlichen Rundfunksender YLE kritisch über die Maßnahmen der ungarischen Regierung geäußert hatten. 

Ungarns Botschafter in Schweden beschwerte sich auf einer Webseite der ungarischen Regierung über eine „schockierende Missachtung von Ungarns Recht auf eine Erwiderung“, nachdem ihm die Tageszeitung Dagens Nyheter mitgeteilt hatte, sie beabsichtige nicht, seinen Brief mit der Entschuldigungsaufforderung zu veröffentlichen. 

Schon Wochen vor diesen Briefen hatte Ungarns Botschafter in Deutschland anlässlich von Berichten und Kommentaren deutscher Medien unter anderem über die Corona-Maßnahmen an die Chefredaktionen der Zeitung Die Welt und der Berliner Morgenpost geschrieben, an einen Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sowie an die Chefredakteure von Frankfurter Rundschau, Rheinischer Post und Badischer Zeitung

Ähnliche Schreiben an Journalistinnen und Journalisten ausländischer Medien verschickten Vertreterinnen und Vertreter Ungarns auch schon in der Vergangenheit. Neu an den Schreiben der jüngsten Zeit ist Korrespondenten zufolge, dass sie vermehrt an die Chefredaktionen, Intendantinnen oder Herausgeber gerichtet sind – ganz offensichtlich mit dem Ziel, die Autorinnen und Autoren einzuschüchtern. 

Ungarn steht auf Platz 89 von 180 Ländern auf der Rangliste der Pressefreiheit. Bei einer gemeinsamen Ungarn-Recherchereise im November 2019 kamen RSF und sieben weitere Pressefreiheits-Organisationen zu dem Ergebnis, dass die Regierung dort stärkere Kontrolle über die Medien ausübt als in jedem anderen EU-Land.



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