Sechs Monate Bundesaufnahmeprogramm 14.04.2023

Afghanische Journalisten müssen weiter bangen

Eine Frau wird in einem Newsroom interviewt. Sie sitzt auf einem Bürostuhl, im Hintergund sind mehrere, an der Wand angebrachte Monitore zu sehen, auf denen diversere Nachrichtenkanäle laufen.
Die afghanische Journalistin Banafsha Binesh im Interview mit Associated Press im TOLO TV Newsroom in Kabul. © picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Hussein Malla

Es passierte ausgerechnet während einer Preisverleihung für Journalistinnen und Journalisten. Am 11. März explodierte eine Bombe in Mazar-i-Sharif, der Hauptstadt der Provinz Balkh im Norden Afghanistans. Zwei Reporter starben, 15 wurden verletzt. „Als die Bombe hochging, fielen wir alle zu Boden und suchten nach einem Ausgang. Aber wir waren in einem Keller, es war schwer, hinauszukommen, und Sicherheitsmaßnahmen gab es nicht. Wir stehen immer noch unter Schock,“ berichtete der freiberufliche Fotojournalist Atif Aryan Reporter ohne Grenzen (RSF) kurz nach dem Anschlag, zu dem sich der sogenannte Islamische Staat bekannte. Zwei Tage zuvor tötete bereits ein Selbstmordattentäter den Gouverneur der Provinz. Den Anschlag reklamierte ein regionaler Ableger und Rivale der Dschihadistenmiliz für sich.

Journalistinnen und Journalisten in Afghanistan arbeiten unter lebensgefährlichen Bedingungen. Sie leiden nicht nur unter den Kämpfen zwischen den Ablegern des „Islamischen Staats“. Sie gehören auch zu den Hauptzielen der Taliban, die im August 2021 wieder die Macht übernommen haben. Diese drohen und verfolgen Medienschaffende, nehmen Reporter fest, verdrängen Journalistinnen aus der Medienlandschaft, zensieren Berichte und durchsuchen Redaktionen. Die Taliban haben den Medienpluralismus in Afghanistan zerstört: Mehr als die Hälfte der 526 Medienunternehmen, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten tätig waren, mussten schließen. Die Printmedien werden mittlerweile vollständig von den Taliban kontrolliert, und fast die Hälfte aller Radiosender hat den Betrieb eingestellt. Von den rund 30 Nachrichtenseiten, die in Afghanistan vor August 2021 existierten, wurden fast 60 Prozent geschlossen, die meisten mussten ins Ausland umziehen.

Ein Hoffnungsschimmer für viele afghanische Journalistinnen und Journalisten war daher das am 17. Oktober angelaufene Bundesaufnahmeprogramm. Jeden Monat wollte die Bundesregierung 1.000 gefährdete Afghaninnen und Afghanen nach Deutschland holen. Doch sechs Monate nach dem Start zieht RSF eine ernüchternde Bilanz. Viele Kritikpunkte, die die Organisation schon kurz nach Beginn bemängelt hatte, bestehen weiter, und einige Befürchtungen sind wahr geworden. Derzeit pausiert das Programm wegen möglicher Sicherheitslücken.

„Sechs Monate nach dem Start des Bundesaufnahmeprogramms sind wir enttäuscht und wütend: Die eigentlich begrüßenswerte Initiative der Bundesregierung erfüllt nicht das, was sie versprochen hat, und lässt die Menschen hängen, die unsere Hilfe dringend brauchen“, sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. „Wie oft sollen wir unsere Kritik noch wiederholen? Wir appellieren an die Bundesregierung, endlich angemessen zu reagieren und die akut gefährdeten Journalistinnen und Journalisten in Afghanistan und Drittstaaten in Sicherheit zu bringen.“

Wer in Afghanistan jetzt noch journalistisch arbeitet, beweist großen Mut. Diesen Journalistinnen und Reportern ist es zu verdanken, dass der Journalismus im Land überhaupt noch existiert. Zu verhindern, dass Afghanistan zu einem medialen schwarzen Loch wird, ist auch das Ziel von Reporter ohne Grenzen. Wenn aber nun auch die letzten unabhängigen Medienschaffenden in den Fokus der Behörden und Milizen geraten, brauchen sie schnelle Hilfe – eine Hilfe, die das Bundesaufnahmeprogramm in seiner derzeitigen Form nicht leistet.

Zivilgesellschaft als „Gatekeeper“

Ein zentrales Problem bleibt, dass die Bundesregierung die Verantwortung, eine Vorauswahl für das Aufnahmeprogramm zu treffen, auf die Zivilgesellschaft abwälzt. Es gibt keine zentrale Aufnahmestelle. Stattdessen fungieren verschiedene Organisationen als meldeberechtigte Stellen. Damit erfüllen NGOs die unangenehme und ethisch fragwürdige Rolle der „Gatekeeper“. Sie müssen mit begrenzten Ressourcen und ohne klare Richtlinien entscheiden, wer bedürftiger ist. Das bedeutet zum Beispiel auch zu entscheiden, wessen Folter schwerwiegender oder wessen Hausdurchsuchung durch die Taliban wahrscheinlicher ist. Die Organisationen werden mit Anfragen überrannt. Doch ohne eine zentrale Koordinierung durch die Bundesregierung kommt es immer wieder zu ressourcenbindenden Doppelungen, da sich Betroffene bei mehreren Organisationen gleichzeitig melden.

RSF musste kurz nach dem Start des Programms Mitte Oktober das eigene Online-Formular für Hilfsanfragen gefährdeter afghanischer Medienschaffender temporär wieder offline stellen. Allein in den ersten zehn Tagen waren mehr als 12.000 Registrierungen und 3.700 Anträge bei der Organisation eingegangen. Hinzu kamen hunderte E-Mails, Nachrichten via Social Media und Telefonanrufe. Bis heute erreichen RSF regelmäßig verzweifelte Anfragen von Betroffenen in Afghanistan oder ihren Kollegen, Freundinnen und Verwandten im Ausland. Nicht alle Anfragen fallen unter das Mandat der Organisation. In einem sehr aufwendigen Prozess prüft RSF rigoros und präzise jeden Antrag: Wie sieht der journalistische Hintergrund der Person aus? Wie akut ist die Gefährdung? Wurde die Person aufgrund ihrer journalistischen Arbeit bedroht oder liegen hier andere Ursachen zugrunde – dann wären wiederum andere Organisationen für die Bearbeitung zuständig.

Langsam und intransparent

Aus Sicht von RSF verfehlt das Bundesaufnahmeprogramm aufgrund des langsamen Vorgehens sein Mandat, besonders gefährdeten Afghaninnen und Afghanen eine Aufnahme zu ermöglichen. Zwar gab es inzwischen Aufnahmerunden, in denen Personen ausgewählt wurden. Bisher ist unter dieser Initiative aber noch niemand nach Deutschland gekommen. RSF ist nicht bekannt, dass Medienschaffende, die von der Organisation an das Programm herangeführt wurden, eine Aufnahmezusage bekommen hätten.

RSF kritisiert in diesem Zusammenhang die Intransparenz. Es bleibt unklar, nach welchen Kriterien und mit welcher Gewichtung Personen ausgewählt werden. Hinzu kommt, dass es bei der Bewertung einzelner Fälle immer um die jeweilige Gefährdung aus der Vergangenheit geht. Bei der Zielgruppe von RSF sollten jedoch auch Szenarien berücksichtigt werden, die noch eintreten könnten. Wenn Journalistinnen und Journalisten etwa erst nach ihrem Antrag eine kritische Recherche oder ein sensibles Interview veröffentlichen, kann dies nicht mehr im Nachhinein angegeben werden, obwohl sie damit erst recht ins Visier der Taliban geraten könnten. 

Keine Hilfe für geflüchtete Journalisten in Nachbarländern

Zu diesem Zeitpunkt müssen sie oftmals schnellstmöglich das Land verlassen – und kommen für einen Schutz in Deutschland dann nicht mehr in Frage: Das Bundesaufnahmeprogramm schließt neue Gefährdungsanzeigen afghanischer Journalistinnen und Journalisten aus, die bereits in Nachbarländer ausgereist sind. Dabei hatten wenige Tage nach dem Fall Kabuls im August 2021 Mitarbeitende der Bundesregierung afghanischen Medienschaffenden indirekt geraten, schnellstmöglich in die Nachbarländer auszureisen. Vor allem höchst gefährdete Journalistinnen und Journalisten, die damit rechnen mussten, als erste unter der Repression der Taliban zu leiden, flüchteten zumeist nach Pakistan. Doch Pakistan und andere Anrainerstaaten bieten keinen langfristigen Schutz. RSF fordert deshalb von der Bundesregierung, Alternativen der humanitären Aufnahme wie über §22 AufenthG weiter zu ermöglichen.

Derzeit gibt es laut RSF-Informationen offenbar keine Pläne der Regierung, das Programm für geflüchtete Medienschaffende in Drittstaaten zu öffnen. Der Organisation ist der Fall eines Journalisten bekannt, der überlegt, mit seiner Familie nach Afghanistan zurückzukehren. Aus Sicherheitsgründen rät RSF jedoch dringend davon ab, in der Hoffnung auf einen ungewissen Platz im Bundesaufnahmeprogramm nach Afghanistan zurückzukehren.

Komplizierte Ausreisebedingungen

Unklar bleibt auch, wie lange Journalistinnen und Journalisten, die ausgewählt wurden, auf die Ausreise warten müssen. Nach einer Zusage müssen die Betroffenen in die pakistanische Hauptstadt Islamabad oder die iranische Hauptstadt Teheran reisen, um dort ihr Visum zu erhalten. Für Pakistan brauchen Afghaninnen und Afghanen jedoch ein Visum, das derzeit nur für viel Geld über inoffizielle Wege angeboten wird. Ein weiteres Problem ist, dass viele von ihnen keine gültigen Pässe mehr besitzen – hier müssen alternative Wege der direkten Ausreise in Zusammenarbeit mit den deutschen Behörden gefunden werden.

RSF fordert die Bundesregierung zudem auf, die intensive Betreuung der Betroffenen zu übernehmen, die von der Auswahl bis zur Ausreise anfällt. Die Erfahrungen der vergangenen Monate zeigen, dass der Kontakt mit gefährdeten Journalistinnen und Journalisten in Afghanistan nicht durchgehend möglich ist. Es kommt vor, dass die Betroffenen plötzlich untertauchen oder den Wohnort wechseln müssen oder keine Internetverbindung haben. Es darf nicht passieren, dass bei solchen zeitweiligen Unterbrechungen der Prozess der Visabeantragung oder Ausreisebetreuung abgebrochen wird, wie dem RSF-Nothilfeteam im Fall einer höchst gefährdeten Radiojournalistin bekannt wurde. Die Journalistin musste ein vorübergehendes Drittland im Frühjahr 2022 wieder verlassen, da ihr Visum nicht mehr verlängerbar war. Seitdem wartet sie in wechselnden Verstecken mit ihrem neugeborenen Kind auf die Hilfe aus Deutschland.

Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht Afghanistan auf Platz 156 von 180 Staaten.



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