Afghanistan 18.09.2021

Über 100 afghanische Journalisten bitten um Hilfe

Nematullah Naqdi, Journalist bei Etilaatroz, nach seiner Rückkehr. Er war von den Taliban festgehalten und misshandelt worden. © Wakil Kohsar / AFP
Nematullah Naqdi, Journalist bei Etilaatroz, nach seiner Rückkehr. Er war von den Taliban festgehalten und misshandelt worden. © Wakil Kohsar / AFP

Mehr als 100 afghanische Journalistinnen und Journalisten haben anonym über Reporter ohne Grenzen (RSF) einen dringenden Appell an die internationale Gemeinschaft gerichtet. Ihr Aufruf ist mit „Der Journalismus in Afghanistan ist vom Aussterben bedroht“ überschrieben. Unterzeichnet haben ihn insgesamt 103 Medienschaffende, darunter 20 Frauen, mit verschiedenen politischen und ethnischen Hintergründen.

Die meisten von ihnen arbeiten derzeit noch in der Hauptstadt Kabul oder in den afghanischen Provinzen. Einige sind aus Angst um ihre Sicherheit in den Untergrund gegangen, zehn der 103 Unterzeichnenden haben es geschafft, aus dem Land zu fliehen. Alle von ihnen haben sich entschieden, anonym zu bleiben, weil sie Repressalien gegen sich selbst oder gegen noch in Afghanistan lebende Familienmitglieder befürchten. Sie eint die Befürchtung, dass Journalismus und Medienpluralismus vollständig aus Afghanistan verschwinden könnten.

„Der dramatische Appell unterstreicht, was wir und andere Organisationen seit Wochen fordern: unbürokratische Hilfe, Schutzgarantien vor allem für Journalistinnen und konkrete Unterstützung für geflüchtete Medienschaffende“, sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. „Die Taliban haben gezeigt, dass sie keine freie Presse dulden werden, weder in Kabul noch in den Provinzen. Reporterinnen und Journalisten in Afghanistan sind akut bedroht, es droht ein Rückfall in die finsteren fünf Jahre der ersten Taliban-Herrschaft.“

Taliban mischen sich immer stärker in die Medienarbeit ein

Die 103 afghanischen Journalistinnen und Journalisten haben Reporter ohne Grenzen gebeten, ihren Appell zu verbreiten. Sie fordern die internationale Gemeinschaft auf, dringend Maßnahmen zu entwickeln, mit denen die Pressefreiheit im Land gestützt werden kann. Die vielen Übergriffe gegen Fotografen, Kameraleute und Reporterinnen der vergangenen Tage, die immer eklatantere Einmischung der Taliban in die Medienarbeit und die Tatsache, dass eine immens hohe Zahl von Journalistinnen nicht mehr weiterarbeiten kann, ließen das Schlimmste befürchten.

Was sie am dringendsten benötigten, seien Schutzgarantien, insbesondere für Journalistinnen. Ebenso wichtig sei ganz konkrete Unterstützung, die es afghanischen Redaktionen ermögliche, ihre Arbeit fortzuführen oder wiederaufzunehmen. Auch Geflüchteten müsse geholfen werden, damit sie außer Landes weiterhin als Journalisten oder Journalistinnen arbeiten können. Wer dringend Zuflucht brauche, müsse auf die volle Unterstützung westlicher Länder zählen können.

Bundesregierung will 2600 besonders gefährdete Menschen aufnehmen

Vor allem an dieser Stelle setzen die RSF-Forderungen an die Bundesregierung an. RSF hat in den vergangenen vier Wochen eine mehrmals aktualisierte Namensliste mit zuletzt mehr als 152 hoch gefährdeten Medienschaffenden an das Auswärtige Amt übermittelt. Auf der Liste standen auch Dutzende Reporterinnen, die in zweifacher Hinsicht gefährdet sind: Als Frau und als Journalistin. Alle diese Fälle hat RSF in einem ausführlichen Verifizierungsprozess überprüft. Mittlerweile hat das Bundesinnenministerium entschieden, 2600 besonders schutzbedürftige Personen und ihren Familien Aufnahmezusagen auszustellen. RSF begrüßt diese Entscheidung.

 

Der Appell in deutscher Übersetzung

Wir brauchen internationale Solidarität, um zu verhindern, dass der Journalismus in Afghanistan ausstirbt

103 afghanische Journalistinnen und Journalisten bitten um Hilfe

"Wir sind afghanische Journalistinnen und Journalisten verschiedener politischer Überzeugungen und Ethnien. Einige von uns sind noch arbeitsfähig. Andere verstecken sich in Kabul oder anderswo in Afghanistan. Andere sind bereits ins Ausland geflohen oder stehen kurz vor der Ausreise. Wir alle sind gezwungen, bei diesem Aufruf anonym zu bleiben. Wir wollen nicht, dass der Journalismus in Afghanistan wie von 1996 bis 2001 ausstirbt. Die Zeit drängt.

Über Reporter ohne Grenzen (RSF) richten wir heute einen feierlichen Appell an die internationalen Institutionen, im Rahmen der laufenden Verhandlungen konkrete Zusagen von den neuen Führern Afghanistans einzuholen. In Kabul arbeitet schon heute nur noch eine von sieben Journalistinnen. Trotz öffentlicher Beschwichtigungen der Taliban sehen wir konkrete Anzeichen dafür, dass sich ein Klima der Repression ausbreitet: Medienschaffende werden bedroht und eingeschüchtert, indirekte Zensur nimmt zu.

Wir bitten alle, denen das Wohl Afghanistans und seiner Bevölkerung am Herzen liegt, die Zukunft des afghanischen Journalismus zu verteidigen, ungeachtet dessen, was in den kommenden Monaten geschieht. Wir fordern eine Kampagne für die Pressefreiheit in unserem Land. Die Errungenschaften der vergangenen 20 Jahre – Unabhängigkeit der Medien, Pluralismus, Schutz von Journalistinnen und Journalisten – dürfen nicht verloren gehen. Es liegt in der Verantwortung der internationalen Institutionen, die Einhaltung des von Afghanistan ratifizierten Pakts über bürgerliche und politische Rechte zu gewährleisten.

Um sicherzustellen, dass der Journalismus in Afghanistan weiterleben kann, brauchen wir Sie. Wir brauchen Ressourcen, um Medien zu bestärken, weiterzumachen oder damit Medien ihre Arbeit wiederaufnehmen können. Journalistinnen und alle anderen weiblichen Medienschaffenden müssen in völliger Sicherheit an ihren Arbeitsplatz zurückkehren und ihren Beruf ausüben können. Der am 21. August [durch die Taliban, Anm. d. Red.] eingesetzte dreigliedrige Medienausschuss muss garantieren, dass er tatsächlich ein Mechanismus zur Verteidigung der Pressefreiheit und nicht zur Unterdrückung von Journalistinnen und Journalisten ist.

Kurzfristig brauchen wir Unterstützung vor allem für die Evakuierung von gefährdeten Journalisten und Reporterinnen. Sie müssen alle notwendigen diplomatischen, konsularischen und finanziellen Mittel bekommen. Wer aus dem Land geflohen ist, muss unterstützt werden, damit er oder sie weiterhin im Journalismus arbeiten kann.

In dieser so historischen wie auch chaotischen Zeit wäre das Verschwinden des Journalismus in Afghanistan katastrophal. Von entscheidender Bedeutung ist der Schutz von Medienschaffenden, um das Grundrecht aller afghanischen Bürgerinnen und Bürger auf Nachrichten und Informationen zu wahren. Das ist eine Grundvoraussetzung für jegliche Hoffnung, Afghanistan eines Tages auf dem Weg zu einem dauerhaften Frieden zu sehen. Helfen Sie uns, den Journalismus in Afghanistan am Leben zu halten."

Die Unterzeichnenden dieses Appells bleiben aus Sicherheitsgründen anonym.

 

Auf der Rangliste der Pressefreiheit, veröffentlicht vor der de-facto-Machtübernahme der Taliban, steht Afghanistan auf Platz 122 von 180 Staaten.



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