Das Recht zu fragen

Peter-Matthias Gaede

Sie werden geschlagen und mit Steinen beworfen, sie werden getreten und beschossen, sie werden verflucht und gehasst. Während eine Jury irgendwo in Europa über ihrer Fotoreportage sitzt, werden sie in Aleppo entführt. Und während in Hamburg ein Text von ihnen übersetzt und veröffentlicht wird, sind sie in Bagdad schon gestorben, bevor er erscheint.

Es gibt einen kleinen Kasten auf der Website der Reporter ohne Grenzen – „Barometer“ heißt er -, der die Zahl der im laufenden Jahr getöteten und inhaftierten Journalisten, Stringer und Online-Aktivisten aufführt und der mit jeder Aktualisierung hässlicher wird. Dabei dürfte er höchst unvollständig sein. Und wenn nicht, so zeigte er doch nur in einem winzigen Ausschnitt, was es bedeutet, als Journalist in Afghanistan, in Syrien oder im Irak zu arbeiten. Oder in der Ukraine, in Russland, in Vietnam oder in der Türkei. Oder in Nigeria, in Eritrea, in Ägypten, in Turkmenistan. Oder in Ungarn, in Paraguay. Oder in Somalia oder Nordkorea. Oder gestern im Kosovo, heute in Gaza-Stadt.

Die Gewalt, die Selbstzensur, die Angst, die Diktaturen und autoritäre Regime, säkulare wie religiöse, in den Köpfen anrichten, die Zerstörung nicht nur in manifesten Kriegssituationen, sie zeigt sich in solchen Statistiken nicht. Gezählt werden müssten sonst Millionen Opfer, nicht einige hundert. Und natürlich verrät kein body count, was sich selbst in einigen mächtigen Demokratien zur Einschränkung von Pressefreiheit zusammenbraut, etwa um die Verbindung zwischen Whistleblowern, Journalisten und Öffentlichkeit zu kappen, in den USA und in Großbritannien oder in Japan.

Wir brauchen Journalisten, die uns Bilder von den Schattenseiten liefern

Zwanzig Jahre deutsche Sektion der Reporter ohne Grenzen - ein Geburtstag leider, an dem es beim Blick auf die Welt kaum etwas bis nichts zu feiern gibt. Nur wenn sich das Leben an Märchen hielte, könnte das Erzählen selbst Despoten zivilisieren, wie es Scheherazade in den „Geschichten aus Tausendundeiner Nacht“ gelang. Und wenn Fotos und Berichte von Unterdrückung und Leid die Unterdrückung und das Leid beenden könnten, wäre es längst geschehen. Aber Ohnmachtserklärungen sind keine Alternative. Deshalb brauchen wir die Journalisten, die uns Bilder und Texte von den Schattenzonen dieses Planeten liefern; Bilder und Texte, die sagen: „Seht hin und tut etwas.“

Denn kein Tag auf diesem Planeten, der nicht mit einer Schusswunde beginnt. Der sprachlose Schrei eines geschundenen, entsetzten Bürgerkriegsopfers. Die Schmerzensmadonna. Leere Augen, gefesselte Hände; das Kriechen, Flüchten, Rennen; die Bündel, die Blechnäpfe; die Stiefel, die Ray-Ban-Brillen, die Schnellfeuergewehre; die schwarzen Fahnen heiliger Krieger, die abgeschlagenen Köpfe und Massengräber; die in Schulen und Krankenhäusern einschlagenden Granaten; die verbeulten, verkohlten Wracks. Lynchjustiz, Säureattentate, Massaker, Flüchtlingsschiffe, Drogenkrieg. Blood, sweat and tears.

Was bewirken Berichte über alles das, woran bemisst man ihre Wirkung? Nimmt man die Spendenkonten nach Fernsehabenden zu den natur- und menschengemachten Katastrophen, ist ihre Macht nicht gering. Aber denkt man an jene (Foto-)Reporter, die in die Kriege gehen, um Antikriegsbilder zu machen, denkt man an jene, die sich mit subversiver Absicht in Diktaturen begeben, so weiß man: Ihre Hoffnung auf ein „Nie wieder“ erfüllt sich nicht.

Und doch: Der Mann vor dem Panzer auf dem Platz des Himmlischen Friedens – nicht drei weitere Generationen chinesischer Zensoren werden es jemals ausradieren können. Abu Ghraib und Guantanamo – nicht mal ein Henry Kissinger wird das jemals noch für gerecht erklären können. Und selbst Trotzki neben Lenin – das Originalfoto wird historisch über die Retusche siegen.

Deshalb: Respekt all jenen Reportern, die nicht an den roten Teppichen auf die berechenbare Ankunft der Sternchen warten, sondern immer noch und immer wieder dahin gehen, wo es wehtut, auch ihnen selber.

In manchen Ländern gehört viel Mut dazu, die Freiheit der Meinung einzuklagen

Es ist anstrengend, was sie nach Hause bringen. Nicht beim Friseur auszuhalten, nicht mit einem Coffee to go zu schlucken. Aber wichtig. Denn es kann aktivieren, kann die Trägheit stören, die Verdrängung verhindern. Es muss also jenen geholfen werden, es müssen jene beschützt und verteidigt werden, die sich aus den klimatisierten Reinräumen dieser Welt hinausbegeben. Nicht überall, aber doch im Nahen und Mittleren Osten, in vielen Ländern Afrikas, in Russland und China gehört viel Mut dazu, die Freiheit der Meinung oder auch nur der Bewegung einzuklagen und sie sich einfach zu nehmen; gehört Courage dazu, den Kampf gegen Verbote, Behinderungen, Gefahren zu führen – oder auch nur über Desinteresse und Überdruss zu siegen.

Die Freiheit, die eigene Blickrichtung zu wählen, die Freiheit der Information – noch gibt es alte und neue Grenzen, hinter denen dieses Menschenrecht nicht gilt. Deshalb ist die Arbeit der „Reporter ohne Grenzen“ von elementarer Bedeutung. Deshalb ist es wichtig, sie zu unterstützen.

„Wenn eine Nachricht das ist, was wirklich neu ist – soll ich dann über die Frau berichten, die sich mit Kerosin überschüttet, um Suizid zu begehen? Das geschieht hier bald jeden Tag, ist also nicht neu.“ Oder: „Erst das Opfer fotografieren, dann sein Blut stillen – oder umgekehrt?“ So fragten junge Iraker, denen eine Journalistin aus dem Westen nach dem Sturz Saddam Husseins das Handwerk beizubringen versuchte. Welche Antworten hätten wir? Keine außer der, dass es grauenhaft ist, wenn sich Journalisten so etwas fragen müssen. Und dass es gut ist, wenn sie es fragen dürfen. Fragen dürfen, ohne im eingangs erwähnten Barometer zu einer neuen Zahl zu werden.

Peter-Matthias Gaede war von 1994 bis Mitte 2014 Geo-Chefredakteur und ist seitdem publizistischer Berater des Vorstands von Gruner + Jahr. Er gehört dem Kuratorium von Reporter ohne Grenzen an.

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