Ein Sprachrohr und ein fester Halt

Sihem Bensedrine

Beim Stöbern in meinen archivierten Unterlagen bin ich auf eine alte Pressemitteilung von Reporter ohne Grenzen gestoßen. Anlässlich der Veröffentlichung eines Berichts über die Probleme der unabhängigen Medien wurden darin die europäischen Behörden aufgerufen, „öffentlich ihre Sorge um die Grundrechte in Tunesien zum Ausdruck zu bringen“. Die Antwort der tunesischen Regierung war wie üblich in eine Leugnung verpackt: „Die Fortschritte in der Presse- und Meinungsfreiheit sind eine greifbare Realität.“

Ein tunesisches Sprichwort besagt: „Ma ydoum hal“ – „nichts ist ewig“. Tatsächlich hat es zehn Jahre später eine Revolution gegeben, und die verlogene Behauptung des Propagandaapparats hat einen Wahrheitsgehalt bekommen. Die tunesischen Bürger kosten mehr als jemals zuvor ihre Meinungsfreiheit aus, und kein neuer Despot wird sie ihnen mehr nehmen können.

Mehr Presse- und Meinungsfreiheit als jemals zuvor

Ich selbst war als Journalistin Gegenstand des erwähnten Berichts und genoss während der Durchquerung der diktatorischen Wüste die unermüdliche Unterstützung von Reporter ohne Grenzen. Heute gehöre ich zu jenen, die damit beauftragt sind, Rechenschaft von der einstigen Propagandamaschine zu verlangen. Denn im vergangenen Dezember hat das tunesische Parlament über ein Gesetz für die Übergangsjustiz abgestimmt, das eine neue Institution ins Leben rief: die „Kommission für Wahrheit und Würde“. Diese Kommission soll die Wahrheit über die Vergangenheit herausfinden und die Opfer rehabilitieren, und ich wurde zu ihrer Präsidentin gewählt.

Für mich, die ich wegen meines Kampfes für die Meinungsfreiheit ein rotes Tuch für das alte Regime war, ist es eine große Ehre, heute eine Institution mit der Aufgabe zu leiten, das alte Propagandasystem zu zerschlagen und mit der diktatorischen Maschinerie abzurechnen, die die Würde der tunesischen Bürger zermalmte, ihnen die Zukunft nahm und das tunesische Volk wie auch seine europäischen Partner schamlos belog.

Diese Ehre teile ich mit Reporter ohne Grenzen und anderen Nichtregierungsorganisationen wie der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte und dem PEN-Zentrum, die mich zwei Jahrzehnte lang unablässig unterstützt haben. Reporter ohne Grenzen war für alle, deren Stimmen zum Schweigen gebracht worden sind, ein Sprachrohr und ein fester Halt gegen die Ungerechtigkeit und wird es bleiben.


Sihem Bensedrine engagiert sich seit den 1980er Jahren in der tunesischen Menschenrechtsbewegung. Als Journalistin schrieb sie über Menschenrechte, Zensur und Bürgerrechte und gehörte zu den schärfsten Kritikern des Regimes. Bensedrine war Chefredakteurin der verbotenen Online-Zeitung Kalima und Generalsekretärin der Beobachter zur Verteidigung der Pressefreiheit in Tunesien, wurde mehrfach festgenommen und teils wochenlang festgehalten. 2002/2003 war sie auf Vorschlag von Reporter ohne Grenzen Gast der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte, 2009 ging sie ins Exil. Nach der Revolution von 2011 kehrte sie nach Tunesien zurück, um am Aufbau eines demokratischen Staates mitzuwirken. Im Juni 2014 hat die neugeschaffene tunesische „Kommission für Wahrheit und Würde“ Bensedrine zu ihrer Präsidentin gewählt.

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